Teil 4 (2): Eine kurze Geschichte der Zeit – Ausflug nach Baton Rouge
Eine erholsame Nacht findet langsam ihr Ende. Vorsichtig öffne ich meine Augen, nicht das die Geschwister Kowalczyk noch immer vor dem Bett stehen und mich musikalisch foltern. Mein Blick schweift zum Fenster. Draußen ist keine Wolke zu sehen, die Sonne lacht mir von einem strahlend blauen Himmel entgegen. Guten Morgen, NOLA. Oder um es mit Satchmo zu sagen:
And I think to myself what a wonderful world. So angenehm es in der Horizontalen auch sein mag, aber auf der Agenda steht für heute eine Tour nach Baton Rouge. Mittels (zu) heißer Dusche werden verloren geglaubte Lebensgeister geweckt, dann geht es zum Frühstück. Wieder dankt man uns für unsere Loyalität, wieder gibt man uns diesen opulenten Platz am Fenster. Im Fernseher läuft eine Sturmwarnung, die sich über Florida, Georgia und Alabama erstreckt. Gut, dass wir diesen Teil der Reise bereits absolviert haben. Ein Blick in die Karte, also die Speisekarte, nicht die Wetterkarte, eröffnet mir einen kulinarischen Höhepunkt: Buttermilch-Pancakes.
"Fantastic choice" wird meine Wahl goutiert, nicht ohne
"this is my absolute favorite" hinterher zu schieben. Ich mag die Amerikaner. Kurze Zeit später steht das kleine Kunstwerk inklusive Pekannussbutter und Speck vor mir auf dem Tisch. Obwohl, so klein sind die beiden Pfannkuchen gar nicht. Und zu meiner Schande muss ich eingestehen, dass ich sie nicht bezwungen habe. Asche über mein Haupt. Aber sie waren verdammt lecker.
Nach dem Frühstück folgen eingeschliffene Abläufe. Kinder holen, Toilette, Sonnencreme, Rucksack packen – nicht notwendigerweise in der Reihenfolge. Der Valetservice bringt uns den Charger vor die Haustüre und weist ausdrücklich auf dieses Prachtexemplar Detroiter Ingenieurskunst hin.
"Cool car, sir." Den Hype um amerikanische Muscle Cars konnte ich noch nie so richtig verstehen. Unser erster Programmpunkt ist die historische Oak Alley Plantage, die etwa auf dem halben Weg nach Baton Rouge liegt. Die gut einstündige Fahrt führt uns am Mississippi entlang – landschaftlich durchaus sehr ansprechend. Schließlich erreichen wir das 10 Hektar große Grundstück mit dem imposanten Herrenhaus in klassischer Antebellum-Architektur und der 250 Meter langen, namensstiftenden Eichenallee. Wurde hier früher noch Zuckerrohr angebaut, so ist die Plantage seit 1972 im Besitz der Oak Alley Foundation und damit für die Öffentlichkeit zugänglich. Allerdings trügt der idyllische Eindruck, denn wir sind in Louisiana, wir sind in den Südstaaten. Zur Bewirtschaftung der Plantage hat das Ehepaar Jacques und Celina Roman zahlreiche Feld- und Haussklaven beschäftigt, die mitunter bis zu 18 Stunden am Tag ihre Arbeit verrichten mussten. Von einigen Sklaven ist die Geschichte überliefert und wird hier in Oak Alley nacherzählt. Wie etwa die Geschichte von Antoine.
Antoine war der Gärtner der Familie Roman und beschäftigte sich unter anderem mit der Veredelung von Pekannussbäumen. Nach unzähligen Versuchen gelang es ihm letztendlich, eine neue Sorte – 'Paper Shell' Pekannuss genannt – zu züchten, deren Schale so dünn war, dass sie mit der bloßen Hand geknackt werden konnte. Noch heute ist diese Sorte in Louisiana weit verbreitet und wird vor allem in der kommerziellen Verarbeitung bevorzugt. Antoine blieb Zeit seines Lebens Sklave und wurde nach dem Tod von Jacques Roman dem Inventar mit einem Wert von 1000 Dollar hinzugerechnet. Gegenüber dem Herrenhaus, räumlich abgetrennt durch eine kleine Allee, stehen die Sklavenunterkünfte, einfache Holzhütten mit spärlicher Ausstattung, die jeweils von zwei Familien bewohnt wurden. Den Sklaven war es gestattet, in Gärten hintern den Quartieren eigenes Gemüse anzubauen, das sie unter anderem an die Familie Roman verkauften, um etwas Geld zu verdienen. Allerdings ist nur ein einziger Fall auf Oak Alley bekannt, dass ein Sklave sich durch sein Erspartes frei kaufen konnte (und trotzdem weiterhin auf der Plantage lebte und arbeitete). In unterschiedlichen Ausstellungen wird das Leben der Sklaven aufgezeigt, aber ebenso Geräte und Werkzeuge zu deren Bestrafung. Das Ganze wirkt sehr bedrückend, insbesondere wenn man den Reichtum und Wohlstand auf der anderen Seite des Geländes betrachtet, der ohne diese Menschen hier niemals hätte zustande kommen können. Menschen, die wie ordinäre Güter gehandelt und von Plantage zu Plantage weiterverkauft wurden, denen aber zu guter Letzt in Oak Alley ein Name gegeben werden konnte, um sich an sie und ihr Schicksal zu erinnern.
Unser Rundgang endet wieder am Herrenhaus. Es gibt Führungen durch das 180 Jahre alte Gebäude, allerdings darf drinnen nicht fotografiert werden. Im Esszimmer erzählt man uns die Geschichte von Meanna, einer Haussklavin von Celina Roman. Während Celina sich in diesem Zimmer vergnügte, hat Meanna hier gedient und dabei nicht selten ein Gespräch mitgehört, das sich um ihr eigenes Wohl sowie das der anderen Sklaven drehte. Und dennoch durfte sie nichts sagen oder Regung zeigen. Es ist schwierig, sich all das vorzustellen. Ein Raum, zwei vollkommen unterschiedliche Wahrnehmungen. Nach dem Tod ihres Mannes übernimmt Celina die Geschäfte. Für die Sklaven ändert sich jedoch nichts. In einem Brief an ihren Sohn schreibt sie:
"Wir werden immer die Herren sein." Mit Ende des Bürgerkriegs und Abschaffung der Sklaverei kam auch das Ende der Ära Roman. Die Großfamilie Roman besaß durchschnittlich etwa 900 versklavte Männer, Frauen und Kinder, die für sie auf den Zuckerrohrfeldern arbeiten mussten. Vom Herrenhaus kommen wir über den Garten zur ehemaligen Garage, wo ein Film über das
weiße Gold und die Bedeutung der Kulturpflanze für die wirtschaftliche Entwicklung Louisianas Auskunft gibt. Daneben befindet sich noch ein weiteres Exponat, ein Bürgerkriegszelt, das über die Auswirkungen des amerikanischen Bürgerkriegs auf diese Region von Louisiana informiert. Die Sklaverei wurde zwar abgeschafft, aber so manche Vorurteile sind immer noch in so manchen Köpfen präsent.
Inzwischen ist es früher Nachmittag, die Sonne brennt unerbittlich vom Firmament. Wir verlassen die Plantage und fahren das kurze Stück zurück bis Wallace. Dort passieren wir den Old Man River über die Veterans Memorial Bridge, jedoch nicht ohne ein paar Impressionen oben vom Deich festzuhalten. Die Fahrt führt uns weiter auf dem US Highway 61, der von New Orleans bis hoch nach Minnesota mit einer Länge von 2553 Kilometern das Land einmal komplett durchschneidet und dabei dem Lauf des Mississippi folgt. Zirka eine Stunde später erreichen wir unser Ziel, das USS Kidd Veterans Museum. Die USS Kidd – benannt nach Konteradmiral Isaac C. Kidd, Sr., der beim Angriff auf Pearl Harbour an Bord der USS Arizona starb – ist einer von drei Zerstörern der Fletcher-Klasse, die von der US Navy ausgemustert wurden und seitdem als Denkmal fungieren. Das Schiff selbst wurde niemals modernisiert und ist der einzige Zerstörer, der sich noch immer im WW2-Design befindet. Man kann das Schiff für Geburtstagspartys (sic!) mieten – habe ich schon erwähnt, dass ich die Amerikaner mag – und es diente darüber hinaus als Drehort für den Film 'Greyhound' mit Tom Hanks, der im Mai 2020 Premiere feiert. Vor dem Museumsgebäude erinnert der Memorial Plaza mit seiner ewigen Flamme an die gefallenen Soldaten aus Louisiana sowie eine Ling-Temco-Vought A-7E Corsair an die Vietnam-Veteranen.
Uns verbleibt etwas mehr als eine Stunde, um den 115 Meter langen Zerstörer zu erkunden. Die Kidd war während des zweiten Weltkriegs im Pazifik unterwegs und hat sich an Einsätzen unter anderem auf den Gilbert- und Marshallinseln, Guam und Okinawa beteiligt. Sie trägt noch heute den Tarnanstrich 'Measure 22', der für die Invasion von Japan vorgesehen war. Wir betreten den Zerstörer übers Achterdeck und finden uns neben einem Geschütz vom Typ Mark 12, Kaliber 5"/38 wieder. Derer gibt es fünf an der Zahl – zwei vorne, drei hinten. Des Weiteren besitzt die Kidd mehrere Flugabwehrkanonen, diverse Abwurfvorrichtungen für Wasserbomben sowie fünf Torpedorohre. Wir schreiten das Schiff einmal ab bis zum Bug, wo die vorderen Geschütze und Flugabwehrkanonen in Doppellafettenbauweise zu sehen sind. Trotz ihres Alters wirkt die Kidd immer noch bedrohlich. Weiter geht es auf der Brücke mit den aus heutiger Sicht anachronistisch anmutenden Instrumenten. Wir steigen unter Deck und gelangen in einen Raum, der Bordküche sowie Speise- und Schlafsaal in sich vereint. Komfort sieht anderes aus, aber schließlich handelt es sich um einen Zerstörer und nicht um ein Kreuzfahrtschiff. Es folgt der
Ammunition Handling Room, der unterschiedliche 5" Granaten für das darüber liegende Geschütz bereit hält. Eine Treppe – Vorsicht: Kopf einziehen – bringt uns zurück aufs Hauptdeck, direkt zu den Torpedorohren und Geschützturm Nummer 3. Selbiger birgt indes eine Überraschung in sich, denn im Turm ist auch der Bordfrisör untergebracht; ein wahrlich seltsamer Arbeitsplatz. Einmal waschen, schneiden, legen bitte.
Wir verabschieden uns von der Kidd und laufen die South River Road nordwärts bis zum Louisiana State House, dem historischen Regierungsgebäude des Staates. Im Jahr 1846 beschloss die Regierung von Louisiana, den Regierungssitz von New Orleans nach Baton Rouge zu verlegen. Dazu wurde auf einer Anhöhe mit Blick über den Mississippi ein neo-gotisches Schloss errichtet, das – inklusive Neubau im Jahr 1882 nach einem Brand – bis ins Jahr 1932 als Regierungssitz diente, bevor es vom neuen Louisiana State Capitol abgelöst wurde. Unser nächstes Ziel. Auf dem Weg dorthin sammeln wir gerne noch ein Wandbild ein; schließlich erreichen wir den Capitol State Park mit der zentralen, vier Meter hohen Bronzestatue und dem Grab von Huey Pierce Long, dem 40sten Gouverneur von Louisiana und Verantwortlichen für die Erbauung des neuen Regierungsgebäudes. Im Art Déco-Stil gehalten und mit einer lichten Höhe von 137 Metern ist das Louisiana State Capitol nicht nur das höchste Gebäude der Stadt, sondern zugleich das höchste Kapitol der Vereinigten Staaten. Die Treppe zum Haupteingang wird links und rechts jeweils von einer Skulptur aus Kalkstein flankiert und auf den Treppenstufen selbst sind die 50 Staaten in chronologischer Reihenfolge des Beitritts eingraviert. Endlich kann auch ich mir die dreizehn Kolonien merken, die sich 1776 in der Unabhängigkeitserklärung von Großbritannien lossagten. Wir marschieren zurück zum Wagen, da höre ich in der Ferne ein Rufen, das mir nur allzu gut bekannt ist. Die grüne Nixe fordert ihren Tribut. Bei einem koffeinhaltigen Heißgetränk beratschlagen wir über das Abendessen. Flusskrebse sollen es werden. Google empfiehlt Parrain's Seafood Restaurant, damit ist die Sache entschieden.
Die Fahrt dauert zehn Minuten, das Warten auf einen Tisch deutlich länger. Wieder bestellen wir als Vorspeise Krokodil, jedoch gesellen sich heute Austern vom Holzkohlegrill dazu. Ein Traum, ich könnte mich reinlegen. Die Wahl der Hauptspeise fällt auf eine Spezialität des Hauses: halb Flusskrebs-Étouffée, halb frittierte Flusskrebse. Ich bin mit meiner Wahl zufrieden und reserviere mir – im Gegensatz zu gestern – noch Platz für die Nachspeise. Der White Chocolate Bread Pudding wird uns mit Nachdruck ans Herz gelegt, wie könnte ich da widerstehen. Ich verbanne den kalorienzählenden Teil meines Hirns in die hinterste Ecke und genieße jeden Löffel dieser wunderbaren Köstlichkeit. Kulinarisch rangiert Louisiana bei mir auf jeden Fall ganz weit vorne. Es verbleibt noch das Unvermeidbare, die Rückfahrt nach New Orleans. Das Navi sagt 90 Minuten, aber unser Charger schafft die Strecke bestimmt in kürzerer Zeit. Ohne weitere Bewunderung Detroiter Ingenieurskunst wird er vom Valetservice zur Nacht gebettet, und genau das machen wir jetzt auch.
Müde und erschöpft fallen wir ins Bett. Morgen ist Ostersonntag. knutschi erzählt mir noch etwas von einer bunten Osterparade, aber da bin ich schon lange im Land der Träume angekommen. Na ja, das trifft es nicht wirklich. Es ist eher eine Reminiszenz an die Bilder und Erlebnisse des heutigen Tages, die mich beschäftigt. Ich denke an Antoine und Meanna, und an die vielen anderen Sklaven. Auch wir haben dunkle Flecken in der Geschichte unserer Zivilisation. Keine Frage; aber wir haben daraus gelernt. Zumindest hoffe ich das...