Für bluesman - eine Anekdote aus deiner Nähe (so ähnlich schon mal verwendet)
In den Sommerferien fuhren mein Schulfreund Finn und ich mit der Eisenbahn nach Schweden. Ich war 16 und durfte das erste Mal alleine verreisen. Unser Ziel war die Kleinstadt Älmhult, in der Mitte des Landes, zwischen Wäldern und Wasser. Ein größeres Dorf, das wir zufällig auf der Landkarte gefunden hatten, weil es dort einen Bahnhof, eine Jugendherberge und einen großen See gab. Doch die Landschaft interessierte uns weniger. Diffus hofften wir auf Freiheit, Abenteuer und schwedische Mädchen. Wir wollten möglichst weit weg sein. In der ersten Nacht am See hörte ein älterer Schwede unsere deutsche Sprache. Sofort redete er los. Hitler hätte mit der Judenvernichtung doch völlig recht gehabt. Auch wenn der Alte nur betrunken war, fragten wir uns, warum wir auf diesen Scheiß angesprochen wurden? Wir hatten doch niemanden umgebracht. Ich war wie gelähmt vor Unbehagen und Hilflosigkeit. Wir wollten kein Gerede vom Führer hören, sondern träumten von Spaß und Mädchen. Doch die gab es in Älmhult nicht, nicht für uns. Erst später begriff ich aus den genialen Kriminalromanen von Sjöwall & Wahlöö, dass Skandinavien kein Paradies ist. Nicht alle Schwedinnen waren blond und schön. Schon gar nicht hatten sie darauf gewartet, pubertierenden Jungen aus Deutschland ihre Wünsche zu erfüllen. Meine Träume von Skandinavien als Land von freier Luft und freier Liebe hatten wenig mit der Realität zu tun.
Für fünfzig Kronen kauften wir ein altes Moped und fuhren in den schwedischen Wäldern umher. Als der Tank leer war, ließen wir es liegen. Dann bestiegen wir den Zug zurück Richtung Heimat. Unterwegs blieben wir noch zwei Tage in Malmö. Als Finn und ich durch die Gassen streiften, wunderten wir uns, dass Kopenhagener beim Bäcker „Wienerbrod“ genannt wurden. Aufgeregt staunend standen wir vor den Pornoheften am Bahnhofs-Kiosk. In der letzten Nacht verjagte die schwedische Polizei uns von einer Parkbank, auf der wir schlafen wollten, und nötigte uns, in ein kleines Hotel in der Mäster Johansgatan umzuziehen. Außer tagelang einem blonden Mädchen hinterher zu träumen, das wir für einige Minuten auf dem Bahnhof in Hässleholm gesehen hatten, als sie in den Zug nach Kristianstad stieg, haben wir wenig erlebt. Make love not war, wir waren noch zu jung. Aber zumindest hatten wir uns aus Deutschland hinausgetraut.
Jahrzehnte später, im Sommer 1992, verstrickt in Geld und Karriere, verbissen in die Sanierung eines maroden Unternehmens, bin ich mit meinem Schulfreund Bernd für drei Tage in Richtung Polarkreis geflogen, in die nordschwedische Stadt Luleå. Dort spielte Bob Dylan zur Mittsommernacht auf dem Volksfest Sjöslaget. Es blieb hell, die meisten Menschen waren mehr oder weniger betrunken. Eine schöne Sommernacht, es war warm, die Stimmung freundlich und entspannt. Nach dem achten Song, passenderweise Love minus zero/No limit, stand ein Mädchen vor mir. Blond und lächelnd. Sie sagte, meine Brille sei witzig, und küsste mich lange. Ich war der Reiz des Fremden. Sie lebte in Umeå und stammte aus Gällivare, vielleicht war es auch umgekehrt. Ihren Namen habe ich vergessen, mit Schweden war ich versöhnt.
So wie bei der jungen Schwedin auf dem Bahnhof in Hässleholm begleiten mich in meinen Gedanken bis heute zwei andere Mädchen, bei denen ich lebenslang bedauert habe, sie nicht kennengelernt zu haben. Die erste arbeitete in einem Asien-Laden, mit dem ich in einem Schülerjob zu tun hatte. Obwohl wir zehn Minuten miteinander geredet hatten, habe ich mich nicht getraut, nach einer Verabredung zu fragen. Sie machte einen Ferienjob und ging noch zur Schule, so wie ich. War es im Sommer 1968? Mochte sie die Beatles oder die Stones? Wie wird es ihr ergangen sein?
Das zweite Mädchen war eine Studentin, die ich zu Anfang des Studiums für höchstens eine Stunde in einem Hörsaal gesehen hatte. Halblange dunkle Haare und ein unglaubliches Lächeln. Oft habe ich an sie gedacht. Es muss toll gewesen sein, morgens neben ihr aufwachen zu können. Endete ihr Leben als Lehrerin? Verlief es glücklich? „When the rivers freeze and summer ends, please see if she’s wearing a coat so warm to keep her from the howlin’ winds.“ Was, außer der Sehnsucht nach Liebe, bringt uns dazu, Menschen zu sehen, und sie spontan innig und tief zu mögen? Und was veranlasst unser Gehirn, solche Erinnerungen für ewig einzubrennen?
Mit der ersten Fahrt nach Schweden erlebte ich, dass Auslandsreisen für uns Nachkriegskinder auch zu unangenehmen Momenten der Befangenheit führen. Im Ausland war es mir immer peinlich, zu sagen, woher ich komme. Deutschland eben. Was für ein beschissenes Vaterland, ich gehörte zu den Verbrechern. Tief sitzt diese Konditionierung in mir. Es dauerte Jahrzehnte, bis ich im Ausland fast ebenso selbstverständlich aussprechen konnte: „Ich bin Deutscher“, wie andere sagen: „Ich bin Franzose.“
Danke an feb für die freundlichen Worte zu dem Buch, aus dem der Text stammt !!!