Manuskript 11
Für unsere Väter, die das autoritäre Sagen in den Familien hatten, waren die Frisuren ihrer Söhne gleichbedeutend mit Unordnung, Schmutz und Ungehorsam. Jungen mit langen Haaren waren Sturmangriffe auf diejenigen deutschen Werte und Tugenden, die das „Dritte Reich“ ermöglicht hatten. Der Geist des Nationalsozialismus war ja nach 1945 nicht aufgearbeitet oder verschwunden, sondern hatte sich nur versteckt. Wir zogen den Erwachsenen die Stühle unter dem Hintern weg. Unsere Haare und unser Verhalten zerstörten die kümmerlichen Reste von Autorität und Selbstwert der Vätergeneration. Als Hitlers Verlierer besaßen sie ohnehin oft nur ein schwaches und maskenhaftes Ego. Mit den äußerlichen Veränderungen ihrer Kinder entglitt ihnen die Autorität über ihre Söhne und Töchter. Wie schon bei der Niederlage von 1945 wurde das Weltbild der Erwachsenen 1967 und 1968 erneut in Trümmer zerschlagen, diesmal von ihren eigenen Kindern.
Der Aufruhr der Jugend war nicht auf Deutschland beschränkt. Wir fühlten uns als Teil einer globalen Bewegung. Große Teile der Welt erlebten eine Kulturrevolution, von Berlin bis Berkeley, von Prag nach Paris. Während in Amerika Rassentrennung und der eskalierende Vietnam-Krieg den sozialen Wandel anheizten, befeuerte in Deutschland die Verdrängung von Krieg und Nazi-Verbrechen die gesellschaftliche Entwicklung. Dazu wurde das Land von einem Nazi-Bundeskanzler regiert. Die politischen Verhältnisse Deutschlands waren in einer großen Koalition zur Salzsäule erstarrt. Auch wenn es uns Heranwachsenden nicht bewusst war, viele unserer Verhaltensweisen sollten für Jahre und Jahrzehnte eine Reaktion auf die Taten unserer Eltern und ihre gesellschaftliche Verdrängung sein.
In den Jahren 1962 bis 1966 drückte sich unsere Abgrenzung von Eltern und Vaterland zunächst in kulturellen Erscheinungen wie Beat-Musik, bunter Kleidung, Miniröcken, langen Haaren und provozierendem Verhalten aus, später dann sollten Teile der Jugend auf den Straßen demonstrieren, die Autorität der Erwachsenen bekämpfen, von der Revolution träumen und sich zum Terrorismus der Rote Armee Fraktion entwickeln.
Die wachsende Bedeutung angelsächsischer Kultur und die neue Beat-Musik wirkten wie Brandbeschleuniger für Wertewandel und Demokratisierung. Je lauter, härter und schneller der Beat erklang, je weniger Erwachsene uns Jugendliche verstanden, je tiefer der Graben zwischen den Generationen wurde, desto höher loderten die Flammen. Auch wenn es uns so vorkam, die gesellschaftlichen Veränderungen kamen nicht über Nacht und fielen nicht vom Himmel, nicht in Deutschland und nicht im Rest der Welt. Rückblickend lassen sich viele Vorboten finden. Besonders in der Kultur Amerikas. Nur davon konnten heranwachsende Jungen wie ich noch nichts wissen, die in Deutschland lebten, in Schulen wie in meinem Gymnasium eingesperrt waren und von Kriegslehrern bewacht wurden.
Die deutsche Nachkriegsgesellschaft war keineswegs so geordnet, sittsam und heil wie uns gerne erzählt wurde. In den späten Fünfzigern galten viele Jugendliche als „Halbstarke“. Es waren junge Männer, vorwiegend aus der Unterschicht, die in Jeans, damals noch „Nietenhosen“ genannt und Lederjacken herumliefen. Mit ihrem Erscheinungsbild grenzten sie sich bewusst ab. Beliebt waren Mopeds und Motorräder, mit denen sie sinnlos durch die Gegend fuhren. Halbstarke verbrachten ihre Freizeit häufig im Freien. Sie trafen sich in Gruppen an Straßenecken, in Parks oder auf öffentlichen Plätzen und wirkten aggressiv. Häufig gab es nach Konzerten oder Filmvorführungen heftige Krawalle. Im Dezember 1956 zogen nach einer Vorführung des Films „Außer Rand und Band“ mit Bill Haley rund viertausend Jugendliche randalierend durch die Innenstadt von Dortmund. Sie belästigten Passanten und prügelten sich mit der Polizei. Ihr Verhalten war Massenprotest gegen eine als streng und trostlos empfundene Gesellschaft und ihre Autoritäten.
Hinter den deutschen Sonntagsreden und der verlogenen Oberfläche war der soziale Frieden brüchig. In München explodierte er. Weil eine Gruppe von jugendlichen Straßenmusikanten im Juni 1962 nach 22.30 Uhr noch spielte, riefen ein Stadtrat und einige Anwohner der Leopoldstraße die Polizei, nachdem es ihnen nicht gelungen war, für Ruhe zu sorgen. Bei dem Versuch der Polizei die Gruppe aufzulösen und die Musiker festzunehmen, kam es zu Rangeleien. Die Situation eskalierte. In der Nacht und an den folgenden vier Tagen kam es in der Umgebung der Ludwig-Maximilians-Universität zu Straßenschlachten zwischen 40.000 überwiegend jugendlichen Protestteilnehmern und der Polizei. Zu den letzten Abenden kamen auch Viele aus anderen Städten angereist um mitzutun. Es entstand hoher Sachschaden. Insgesamt wurden mehr als vierhundert Personen festgenommen und einige später zu geringen Geld- oder Freiheitsstrafen verurteilt. Die zahlreichen Anzeigen gegen Polizisten blieben folgenlos.
Schon in den Fünfzigern begann das amerikanische Kino neue Rollenmuster zu vermitteln, die auch nach Deutschland herüberschwappten. In „The Wild One“ spielte Marlon Brando den harten Rebellen, der in Ledermontur auf dem Motorrad sitz und die braven Bürger ärgert. In „Denn sie wissen nicht was sie tun“ verkörperte James Dean einen sanften, verstörten „Rebellen ohne Grund“, am Rande der Psychose. Musikalisch hatte schon Elvis Presley Ende der fünfziger Jahre die Erwachsenen erschreckt, mit Rock’n Roll und Hüftschwung. Anfangs galten seine Auftritte als unzüchtig und wurden als Neger- oder Hottentottenmusik diffamiert. Die weiße Mittelschicht Amerikas hasste und fürchtete ihn. Ein weißer Mann, der laut schreit, dazu öffentlich und unkontrolliert seinen Unterleib zur Musik bewegt, erzeugte Angst. Dazu verbreiteten sich die Musik von Little Richard, Chuck Berry, Bo Diddely und Jerry Lee Lewis. Musiker, die laut sind und ihre Hose herunterlassen. Sie verdrängten das brave „Sing-a-long“ angepasster Teenager, die auf ihre Eltern hören, an das Gute glauben, Gesetz und Anstand achten, Sonntags zur Kirche gehen, sich immer die Hände waschen und sich höchsten auf dem Rücksitz des Autos befummeln. Tell your ma, tell your pa, our love is gonna grow. Haha.
Nichts sollte bleiben wie es war. Sam Cook sang „A Change is gonna come“. In Greenwich Village stromerte Bob Dylan mit seinen Freunden herum und verkündete, die Zeiten würden sich ändern. The times they are a-changing. Schon 1962 hatte er einen anderen Song geschrieben, der zur Hymne der Veränderung wurde, A hard rain’s a-gonna fall. Die Klage über den Sterben im Kalten Krieg, „where black ist the color and none is the number“, die das Bewusstsein von Generationen prägte.
Ähnlich wie Deutschland waren auch England und Frankreich nach dem Krieg konservativ erstarrt und bildeten eine kalte deprimierende Umgebung für Heranwachsende. Auch in England kam es Ende der fünfziger Jahre zu sozialen Unruhen. Rivalisierende Jugendbanden der Teds und Mods lieferten sich heftige Krawalle und Schlachten. Zwar gehörte England dank Amerika zu den Siegermächten, aber das Land das sein Empire verloren, war materiell zerstört und gesellschaftlich auseinandergebrochen. Es wirkte arm, grau und trist. Wer als Jugendlicher nicht gerade Eltern aus der Oberschicht oder das seltene Glück einer Mittelschicht-Enklave hatte, lebte in einer perspektivlosen Welt. England war in einer undurchlässigen Klassengesellschaft eingefroren. Jungen Männern blieb meist nur der Weg in eintönige und schlecht bezahlte Jobs oder der Gang in Armee. Dazu das abendliche Besäufnis. Cheers Paddy. Alles sah unendlich trostlos aus. THE WHO pressten diese Realität in Worte für die Ewigkeit. „Things they do look awful cold, I hope I die before I get old, talking of my generation“. Megahit des Jahres 1965.
Doch das Aufbegehren von Teilen der Jugend in den Fünfzigern und frühen Sechzigern war nur ein kleiner Anfang, nur ein laues Lüftchen, gemessen an den Veränderungen der Swinging Sixties. Anfang der Sechziger begannen unzählige junge Männer in England, die Musik ihrer amerikanischen Vorbilder aus Rhythm & Blues und Rock Roll nachzuspielen. Pete Townsend, Eric Burdon, Reg Presley, Ray und Dave Davis, Eric Patrick Clapton, John Lennon oder Michael Phillip Jagger hießen einige von ihnen. Sie spielten in Bands, machten musikalische Karrieren und waren Taktgeber der Revolte. Angeführt vom Sound der britischen Beatmusik fegte der Orkan einer jugendlichen Kulturrevolution um den Globus, ergänzt durch die Kultur und Kleidung der Londoner Carnaby Street, die Mode von Mary Quant und Stilikonen wie Twiggy.
Anfangs klangen die großen Hits der BEATLES und ROLLING STONES noch romantisch, „I want to hold your hand“, dann ging es zur direkter Sache, „Uh I need your love babe, eight Days a Week“. Meine Eltern schenkten mir einen billigen Plattenspieler und ich kaufte meine erste Schallplatte. „Last Time“ von den ROLLING STONES. Wenige Wochen später erschien ihr Megahit „I Can‘t get no Satisfaction“. Es ging nicht um Mick Jaggers Orgasmus, wie viele Erwachsene glaubten, die STONES schrien heraus, wie langweilig, unbefriedigend und beschissen die Lebensverhältnisse für Jugendliche waren. Abend für Abend hämmerten THE WHO im Stakkato in den Clubs ihr „My Generation“. Wenn Keith Moon am Ende der Shows sein Schlagzeug umwarf und Pete Townsend seine Gitarren zerschlug, tobte die Wut über den Zustand der Welt. „I hope I die before I get old“, treffender konnten die Verhältnisse der Nachkriegsjahre nicht beschrieben werden. Zuviel hatte sich aufgestaut. Weltweit heulte der Geist der Befreiung, er tobte und zerrte an den Ketten seiner Gefangenschaft.
Betrachte ich Videos von Konzerten der TROGGS aus dem Jahr 1964 auf Youtube, fange ich an zu verstehen, was ich mit vierzehn nicht begriff und mich auch nie getraut hätte auszusprechen. Es war Sex, purer Sex, der intensivste dem ich je zugesehen habe. Wenn die Band ihr „Wild Thing“ rausrotze, standen vor dem Sänger dichtgedrängt kreischende und zuckende Mädchen mit feuchten Höschen. „Wild Thing, you make my heart ring“, der Song erzählte von einem Mädchen, das vor der Bühne stand. Ihre rote Hüfthose hing so tief hing, dass der Sänger ihre Haare sah. Nach dem Konzert trieben sie es im Auto.
Nur ahnungslose Erwachsene konnten fragen, warum beim ROLLING STONES Konzert in Berlin 1965 zwanzigtausend Jugendliche die Waldbühne in Trümmern schlugen und der Polizei eine stundenlange Schlacht lieferten. Es erzeugte die so lange vermissten Gefühle von Leben und Lebendigkeit. Die Mehrheit der Jugendlichen hatte die Nase von der Welt der Erwachsenen voll.
Unzählige Songs explodierten in jugendlichen Köpfen wie Bomben, unzählige Liedtexte waren Manifeste der Rebellion, die Ungehorsam gegen das Bestehende verkündeten. Bob Dylan sagte in einem Interview, lange vor Patriots Act und dem Konzentrationslager Guantanamo, „wenn ich dir erzähle wovon der Song handelt, stecken sie uns beide ins Gefängnis“. Musik der Jugend war Anstiftung zum Aufruhr. „It’s my life and we do what we want, It’s my head and I think what I want“ (Eric Burdon). Gesellschaftskritik und Freiheitsträume kamen als Rock’n Roll aus den Lautsprechern. „The time is right for fighting in the streets“ verkündeten die ROLLING STONES. Songs waren eine mächtige Waffe, die uns half, erwachsen zu werden. Sie vermittelten Sinn und Ideale, stellten Fragen und gaben Antworten, die unsere Eltern nicht hatten. Ohne meine täglichen Songs von Bob Dylan hätte ich mich in der Schule erhängt. Seine Musik und seine Worte haben mich am Leben erhalten. Millionfach habe ich diese Worte gehört, Oh, where have you been, my blue-eyed son? And where have you been my darling young one? Where hunger is ugly, and souls are forgotten. An anderen Tagen retten mich Songs und Stimme von Joan Baez, der heiligen Johanna der Revolution, vor dem Fall in die Tiefe. We shall be alright. We are are not afraid. We shall live in Peace. Some day. Teile meines Bewusstseins lebten in einer Parallelwelt.
Wie viele Wege muss man gehen, bis man ein Mann wird? Wie lange wird es dauern, bis wir frei werden? Wie viele Tote sind erforderlich, bis wir einsehen, dass schon zu viele gestorben sind? Wie wird es als Erwachsener sein, ohne Eltern, to be all alone, to be on your own, to be complete unknown, to be like rolling stone.
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Genug für heute - Fortsetzung folgt