Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist und schon gar nicht, wo ich bin. Der Zephyr bringt mich in Situationen, in die mich die wildesten Unipartys nicht gebracht haben.
Zum Glück gibt es J. Während ich Attendant S. beim ersten Teil der Reise ein oder zwei Mal beobachten konnte wie er in seiner Roomette No. 1 ein "Schläfchen hielt" - sitzend, die Vorhänge geschlossen, die Tür geöffnet, nur die Sicherheitsschuhe ragten hervor - scheint J. niemals zu schlafen. Mehr noch: sie ist wie immer außergewöhnlich gut gelaunt, als ich anhand der dampfenden Kaffeestation zumindest festelle, dass es wohl schon nach 6 Uhr morgens sein muss.
We spent almost two hours in Salt Lake. What a mess!
Ich nippe zufrieden am viel zu heißen Kaffee, und J. weist mich darauf hin dass wir bald verspätet Winnemucca, NV, erreichen würden. Einen Fresh Air Stop. Das würde mich doch sicher interessieren? Und wie es das tut!
Fast hätte ich jetzt begonnen mit "Zum Glück", aber das wäre falsch gewesen, denn es ist kein Glück sondern die übliche Umsorgung der Passagiere, dass J. zuerst über Lautsprecher und mich zur Sicherheit dann noch persönlich darauf hingewiesen hat, dass der Stop in Winnemucca ein bisschen speziell ist: der Zug rollt an den zu kurzen Bahnsteig, die Passagiere aus den Sleepern und Personal steigen aus. Ohne den obligatorischen Ruf "All aboard!" rollt der Zug nun wieder an, genau soweit bis "mein" 2. Sleeper gerade noch so am Bahnsteig steht. Nun öffnen sich auch die Türen der vorderen Coaches und auch dort beginnt der Passagierwechsel. Gut, dass man das vorher erklärt hat - sonst hätte mich ordentlich geschreckt, wenn der Zug auf einmal losfährt und ich ohne Pass und Kreditkarte an dieser Haltestelle gestanden wäre.
Zurück an Bord noch ein schnelles Handyfoto aus der Roomette:
... und es wird Zeit für mich, die Dusche des Zephyr zu testen. Zu meiner großen Freude gibt es reichlich heißes Wasser, dass es sauber sein würde hatte ich schon erwartet. Berichte über verdreckte Toiletten beziehen sich fast immer auf die Coaches, im Sleeper passen die die Passagiere auf "ihre" vier Toiletten pro Wagen offenbar gut auf.
Nachdem ich das zwei Mal das Frühstück ausgelassen hatte, will ich das am letzten Tag auch noch erleben. Da das ältere Ehepaar an meinem Tisch allerlei Sonderwünsche äußert, traue auch ich mich "just some scrambled eggs" zu bestellen. Dass es beim Frühstück "ganz oder gar nicht" heißt, sollte mir doch noch vom Vortag in Erinnerung sein.
Dass Amtrak seit ein paar Jahren Plastikteller verwendet, ist natürlich kaum wo gut angekommen - außer bei mir: ich halte das Geräusch von Besteck auf Keramik überhaupt nicht aus, und nicht nur einmal rutsche ich mit dem Messer bei einer plötzlichen Bewegung des Zuges aus. Also gut für meine Nerven!
Der Zug rollt durch die Wüste(n?) Nevadas auf Reno zu.
Vor Reno meldet sich der Conductor zu einer ungewöhnlich langen und besonders launigen Ansage: wir sollen nur ja nicht der Verlockung verfallen, während unseres Aufenthalts das große Glück zu suchen. Zu viele Passagiere seien schon an einer der Slotmaschinen hängen geblieben und hätten die Abfahrt des Zuges verpasst. Ich bin da nicht gefährdet, genieße aber trotzdem den Aufenthalt am etwas schmucklosen Bahnsteig.
Mit nur noch 1,5 Stunden Verspätung verlassen wir Reno und beginen den Aufstieg Richtung Donner Pass. An Bord ist jetzt auch jemand, der im Observation Car im Rahmen des "On Board Guide Program" die Fahrt des Zuges kommentiert und einige historische Hintergrundinfos erzählt. Auch wenn ich mir nicht alles merke, finde ich das ein großartiges Service, das ich mir eigentlich für die ganze Strecke (oder zumindest ab Denver) gewünscht hätte. Falls jemand Lust hat, einen Audioguide aufzunehmen - ich würde gutes Geld dafür zahlen!
Und dann erreichen wir den letzten Höhepunkt der Fahrt, der Zug fährt südlich entlang des Lake Donner.
Bei mir macht sich der aufkommende Wehmut immer stärker bemerkbar. Schon heute abend werde ich nicht mehr im Dining Car speisen und meinen Sitz nicht zum Bett umbauen, morgen werden mich nicht Sonnenstrahlen wecken sondern Verkehrslärm oder gar der Handywecker. Wir durchfahren noch ein Skigebiet, einer der Lifte verläuft sogar über die Zugstrecke.
Ich begebe mich zum Mittagessen und bestelle einen Cesars Salad. Der wird mir auch promt serviert - erst bei der Hälfte der Portion fällt mir auf, dass er weder Croutons noch Tomaten enthält. Der Zug hat mittlerweile Colfax erreicht und blockiert den Bahnübergang.
Nur noch vier Stunden! Es wirkt auf mich selbst absurd, aber nun wird es stressig. Muss ich im Zug noch etwas erledigen? Ich kaufe mir zum ersten Mal einen Kaffee im Observation Car, der zweite geht auf's Haus, weil ich um 10$ einen "Passenger Comfort Kit" als Souvenir erwerbe. Nun besitze ich eine dünne Decke mit dem Aufdruck "Property of Amtrak", eine Schlafmaske, Ohrenstöpsel und einen aufblasbaren Polster. In Sachen Merchandising ist Amtrak wirklich mies - keine Postkarten, keine Kühlschrankmagneten, keine T-Shirts. Aber vielleicht bin ich ja auch der einzige Verrückte, der den ganzen Souvenirshop aufkaufen würde.
Mit zunehmendem Tempo verlässt der Zephyr jetzt die Berge, Autoverkehr und Siedlungsdichte nehmen zu. Ein Eisenbahnfriedhof zieht vorüber, und schon erreicht der Zug Sacramento, den letzten Fresh Air Stop der Reise.
Ich kann das jetzt nicht genau belegen, aber ich habe irgendwo gelesen, dass der neue Nachtzug von Wien nach Brüssel auf der Strecke ein Durchschnittstempo (inkl. Stops) von gerade einmal 70 km/h erreicht. Recht viel langsamer ist auch der Zephyr über die ganze Strecke nicht. Während man bei den Aufstiegen ins Gebirge das Gefühl hat nebenbei Blumen pflücken (bzw. Schneebälle rollen) zu können, geht es nun wieder flott dahin. Fast etwas zu flott für meinen Geschmack.
Im Dining Car ist schon längst zusammengeräumt, und auch J. hat ihren Sleeper auf das Ende der Reise vorbereitet. Ich verbringe noch etwas Zeit im Observation Car, wo das letzte Bild der Reise entsteht.
Wie eine S-Bahn fährt der Zephyr, nur mehr leicht verspätet, in Emeryville ein. Das Gepäck wird in den Bus getragen, und ab geht's in den Stau Richtung San Francisco.
Verdict
Ein Reisebericht muss ja immer auch einen Abschluss enthalten, eine Zusammenfassung, eine kritische Beobachtung. Da will ich nicht enttäuschen.
Hat der California Zephyr meine Erwartungen erfüllt? Ein klares Ja, wobei meine Erwartungen auch nicht ganz richtig waren. Man kann sich noch so ausführlich vorbereiten und über alle technischen Details der Reise informieren, das Erleben ist dann doch etwas anderes. Das gilt hier ganz besonders: ich hatte keine Vorstellung vom "Feeling" eines Langstreckenzuges, hatte mir eher noch eine besonders lange Fahrt im Nachtzug ausgemalt. Das war aber freilich nur ein Teilaspekt des Ganzen. Vielleicht kann man es als "Kreuzfahrt auf Schienen" betrachten, aber ich bin mir da nicht sicher, weil ich noch nie eine Kreuzfahrt gemacht habe. Was mich - trotz der eigentlich kurzen Dauer der Reise - überrascht hat, war, dass ich mich an Bord "heimisch" fühlte. Heimisch wie in einem schönen Hotel, in dem man den Urlaub verbringt.
Dazu trägt bei, dass der Zephyr einfach herrlich ineffizient ist. Ein eigener Wagen nur für Gepäck, ein echter Speisewagen und natürlich das Observation Car. Im Vergleich zu modernen (Nacht-)Zügen ein äußerst großzügiges Platzangebot sowohl im Sleeper als auch im Coach. Da wird ziemlich viel Personal eingesetzt und Material bewegt, und das merkt man als Passagier auch. Wenn man sich überlegt, was einen zweieinhalb Tage USA inkl. Essen sonst so kosten, ist der Zephyr mit seinen 550 $ Mindestpreis ja geradezu ein Sonderangebot - knapp 4.000 Kilometer Strecke und Sightseeing inklusive.
Besonders in Erinnerung bleiben wird mir aber das Personal, allen voran natürlich J. Von der ersten Durchsage in Chicago an hat man bei allen Angestellten den Stolz in der Stimme gespürt, wenn sie den "California Zephyr" ausgesprochen haben. Möge er ihnen und uns noch lange erhalten bleiben, in all seiner Pracht und Absurdität!