Ich glaube nicht, dass es beim Thema Sextourismus einer psychologischen Evaluation von Sexualstraftätern bedarf. Nicht jeder, der einen Supermarkt betrifft, ist ein Dieb oder Einbrecher. Die große Mehrheit sind ganz einfach Kunden, denen man Unrecht tut, sie als Diebe oder Einbrecher zu kriminalisieren oder auch nur im Kontext mit ihnen zu nennen.
Es gehört freilich zum Standardrepertoire der vielzitierten "Gutmenschen", andere Menschen (aka den ideologischen Gegner) zu kriminalsieren, vollkommen unterschiedliche Dinge in einen Topf zu werfen und dabei möglichst viele Schlag- und Schlüsselwörter einzusetzen, die beim Rezipienten eine emotionale Reaktion spontaner Empörung provozieren.
Das liegt natürlich auch am Thema. Prostitution ist nunmal grundsätzlich umstrittener als ein Einkauf im Supermarkt, viele sehen darin etwas grundsätzlich Anstößiges und Verwerfliches, etwas Negatives, das idealerweise von der Bildfläche verschwinden sollte. Das kennt man auch von anderen Reizthemen, etwa dem Schusswaffenverkauf (vgl. USA vs. Europa), dem Verkauf weicher Drogen (Coffee Shops, Medical Marihuana) oder Abtreibungskliniken. Es ist nicht schwer, Zeitgenossen aufzutreiben, die legale Waffenhändler (oder -käufer), legale Drogenverkäufer (oder -nutzer) sowie Abtreibungsärzte (oder abtreibende Frauen) pauschal als "menschlichen Abschaum" diffamieren werden – schwarzweiß, keine Kompromisse, ist so, basta, keine weitere Diskussion. Insofern liegt es auf der Hand, dass sich immer auch Menschen finden, die "Sextouristen" allein schon deshalb pauschal verurteilen, weil sie ihrem Weltbild nicht entsprechen oder nicht in ihr Moralgebäude passen.
Dass solche "Gutmenschen" bei ihrem (selbst-)gerechten Kreuzzug gegen das "Böse" nicht davor zurückschrecken, die Gegenseite pauschal zu kriminalisieren, ist sicherlich nachvollziehbar. Das kennt man im großen Stil unter anderem auch von Politikern, bis hin zum amerikanischen Präsidenten. Bekannt ist auch, dass dabei stets nur dem eigenen Weltbild entsprechende und mit der eigenen Ideologie konform gehende, besonders negative und dramatische Teilaspekte der Gegenseite herausgegriffen werden, während man alles, was positiv sein könne, geflissentlich ignoriert – und jeden in die kriminelle Ecke stellt, der es wagt, zu relativieren oder gar zu widersprechen. Das muss dann zwangsläufig auch einer "von denen" sein – also einer der moralisch Verkommenen, einer dieser Verbrecher, kurzum: der Feind. Wer beispielsweise in den USA in den ersten Monaten und Jahren nach 9/11 kritische Fragen stellte oder der Herrschaftsmeinung gar widersprach, wurde reflexartig als Terroristenfreund und "unpatriotisch" diffamiert, und viele verloren deshalb sogar ihren Job.
Fundamentalismus zeichnet sich dadurch aus, nur noch den Teil der Realität wahrzunehmen, der ins eigene Weltbild passt, bzw. die Realität entsprechend zurechtzubiegen, bis sie passt. Also letztlich eine Wahrnehmungsstörung, die allein schon deshalb nie verschwinden wird, weil sie grundsätzlich gemeinschaftsfördernd ist. Menschen sind genetisch programmiert, sich in "Wertegemeinschaften" zu organisieren – Vereine, Kirchen, Nationalstaaten. Gemeinsam ist man einfach stärker und erfolgreicher als alleine. Das funktioniert aber nur, wenn die Mitglieder solcher Gemeinschaften fähig sind, offensichtliche Differenzen zwischen Individuen auszublenden und sich stattdessen auf das allen Gemeinsame zu konzentrieren. Schießt man dabei übers Ziel hinaus, wird es schnell fundamentalistisch und intolerant, zu beobachten unter anderem bei zahlreichen Religionsgemeinschaften und Sekten, aber auch bei Interessengemeinschaften wie radikalen Tier- und Umweltschützern oder "Pro Life"-Organisationen, denen die eigene Ideologie oft wichtiger ist als eine sachliche Auseinandersetzung mit der grauen Realität. Und natürlich findet man das auch bei Gottesstaaten, wobei es hier im aktuellen Jahrtausend zunehmend schwieriger wurde, zwischen der Regierungsrhetorik einiger islamischer Nationen und jener der Vereinigten Staaten zu unterscheiden.
Dieser Thread ist letztlich also nur ein weiteres Beispiel für ein typisches Reizthema, das zwangsläufig die "üblichen Verdächtigen" auf den Plan ruft, also die Überzeugungstäter, denen ihre fest zementierte Überzeugung (aka Ideologie) wichtiger ist als eine ergebnisoffene Auseinandersetzung mit einer facettenreichen Grauzone. In genau diese Scharte schlägt auch der im OP genannte "journalistische" Beitrag, bei dem es sich ganz offensichtlich (ja, ich habe ihn mir extra angesehen) um eine vollkommen einseitige Betrachtung handelt, die genau das sucht und zeigt, was der Agenda seiner Macher dient. Beiträge dieser Art nennt man übrigens "Propaganda". Was keineswegs bedeutet, dass das, was der Beitrag zeigt, nicht tatsächlich existiert oder unwahr sein muss. Propaganda zeichnet sich eben dadurch aus, dass sie – wie jeder Fundamentalismus – nur einen zur eigenen Agenda passenden Ausschnitt der Realität (des "großen Ganzen") zeigt, betont und gerne auch dramatisiert, der Rest wird ausgeblendet, ignoriert. Und natürlich wird alles stets nur so bewertet und interpretiert, dass es zur eigenen Agenda und ins eigene Weltbild passt. Bereits der abschätzig-herablassende Ton, mit dem der Fragesteller seinen Subjekten in dem Beitrag begegnet, spricht hier Bände.