Auf dem Weltgipfel zur Atomenergie sagten sich 32 Mitgliedstaaten Unterstützung beim Kernkraft-Ausbau zu. Während die deutsche Energiewende bisweilen gar als abschreckendes Beispiel gilt, eröffnet sich Europa mit den AKW-Plänen sogar die Chance auf eine neue Technologieführerschaft.
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Den ganzen Nachmittag über tauschten sich die Delegationen vor allem über Finanzierungsfragen aus, es ging nicht mehr um das „Ob“, es ging nur noch um das „Wie“.
EU-Präsidentin Ursula von der Leyen forderte von den Mitgliedstaaten der Union, eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke zu prüfen.
Es gab Klimaschützer, die das anders sahen: Vom Dach des Expo-Gebäudes seilten sich Greenpeace-Aktivisten ab, hissten Anti-Atomkraftbanner. Das „European Environmental Bureau“ (EEB), das nach eigenen Angaben größte Netzwerk europäischer Umweltschutzgruppen, erklärte Atomkraft für überflüssig, um die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens zu erreichen.
Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien reiche eine „scharfe Reduktion des Stromverbrauchs“ aus. Zeiten geringer Wind- und
Solarkraft-Einspeisung könnten mit „Flexibilitätsoptionen“ und „nachfrageseitigen Maßnahmen“ überbrückt werden. Was das EEB damit meinte, verdeutlichte ein beigelegter Report der Gruppe:
Demnach müsse Europa seinen Endenergie-Bedarf bis 2040 mehr als halbieren. Dann würde es ohne Kernkraft gehen.
Der Prämisse vom halbierten Energieverbrauch mochten jedoch die Regierungschefs auf dem Nuklear-Gipfel nicht folgen. Schwedens Regierungschef Ulf Kristersson erklärte, er rechne für sein Land nicht mit einer Halbierung, sondern im Gegenteil mit einer Verdopplung des Strombedarfs – verursacht durch das Vordringen von Elektromobilität, Digitalisierung und industrieller Modernisierung. Mit einem nuklearen Neubauprogramm will Stockholm nun ganz schnell zunächst zwei Reaktoren bis 2035 ans Netz bringen, danach zehn weitere Blöcke bis 2045.
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Neben den drängender werdenden Forderungen von Klimaschützern sind geopolitische Versorgungsängste nach dem Ende russischer Erdgaslieferungen das zentrale Motiv für die Hinwendung zur nuklearen Option. Die Ankündigung von US-Präsident Joe Biden vom Januar dieses Jahres, ein Moratorium für den Export von Flüssig-Erdgas zu prüfen, ließ diese Sorgen in Europa weiter wachsen. Befürchtungen, im Standortwettbewerb gegen das Billig-Energieland USA unaufholbar zurückzufallen, tun ein übriges. Uran dagegen ließe sich nach Ansicht von Experten leicht auch aus anderen Ländern als Russland beziehen.
Die Hoffnung, allein durch den Ausbau von erneuerbaren Energien für ein großes, preissenkendes Angebot an Strom sorgen zu können, teilt außerhalb Deutschlands kaum jemand. Die milliardenschweren Beihilfen und Stützungspakete der Bundesregierung für ihre atomfreie Energiewende werden in Publikationen der World Nuclear Association (WNA) ganz offen als abschreckendes Beispiel vorgeführt.
Selbst Institutionen, die sich der grünen Transformation des Energiesektors verschrieben haben, kommentieren mit kaum verhohlener Skepsis den
deutschen Sonderweg: So schätzte die Finanznachrichtenagentur BloombergNEF etwa den Geldbedarf der deutschen Energiewende bis 2030 b
ereits auf eine Billion Euro. Dass staatliche und private Mittel in dieser Größenordnung aufgebracht werden könnten, stellten die Analysten offen infrage.
Teuer, klimafeindlich, unsicher: Energieforscher André Thess zieht im WELT-Interview eine vernichtende Bilanz der Energiewende. Er kritisiert den Opportunismus von Wirtschaftsmanagern und Medien und erklärt, warum unabhängige Wissenschaftler von der Planung der Energiewende ausgeschlossen wurden.
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WELT: Es ist eine spektakuläre Version: Wohlstand ist ja eng verknüpft mit Energieverbrauch – je weniger Energie, desto geringer der Wohlstand eines Landes, so zeigt es die Statistik. Kann Deutschland das erste Land der Welt werden, dass trotz schrumpfender Energieversorgung seinen Wohlstand mehren oder wenigstens halten kann, obwohl es das eherne Gesetz brechen will: mehr Energie gleich mehr Wohlstand?
Thess: Die mir bekannten Fallbeispiele lassen zweifeln. Die Kanareninsel El Hierro zum Beispiel hat versucht, komplett ohne fossile Energien auszukommen. 50 Prozent erneuerbarer Strom wurden erreicht, für 85 Millionen Euro, also etwa 15.000 Euro pro Einwohner. Die Kosten für die zweiten 50 Prozent wären deutlich teurer, aber das Projekt stockt. Dabei handelt es sich um eine wenig industrialisierte kleine Insel mit besseren Windverhältnissen als bei uns.
Prinzipiell wäre es aber möglich, selbst ein Industrieland wie Deutschland komplett auf Sonnenenergie und Windkraft umzustellen. Nach meiner Schätzung ergeben sich allerdings Kosten von knapp zehn Billionen Euro, also 100.000 Euro pro Einwohner. Gestreckt auf 20 Jahre müsste Deutschland jährlich rund zehn Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Klimaneutralität ausgeben. Aber darüber redet man lieber nicht, denn mit solchen Zahlen bekommen Sie keinen Applaus und keine Einladungen in Talkshows.
WELT: Mittlerweile mehren sich kritische Stimmen. Der Chef des Energiekonzerns E.on, Leonhard Birnbaum, sagte gerade, die beliebte Geschichte der billigen Energiewende könne nicht mehr erzählt werden. Ein Fortschritt?
E.ON-CHEF
„Müssen uns ehrlich machen“– wichtigster Netzbetreiber fordert Ausbaubremse für Ökostrom
Thess: Die Verantwortungsträger aus der Wirtschaft hätten vor fünf bis zehn Jahren ihre Kritik lauter einbringen müssen, aber sie haben opportunistisch alles durchgewunken.
WELT: Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt hat anlässlich des Atomausstiegs mitgeteilt: „Das Aus für die Atomkraft ist auch ein entschiedenes Ja für die Erneuerbaren. Das ist für die Zukunft entscheidend. Energie aus Wind und Sonne kriegen wir zum Nulltarif, verlässlich und sicher. Mehr Erneuerbare machen den Strom für uns alle günstiger.“ Was antworten Sie?
Thess: Pro Kilowattstunde können Solarenergie und Wind tatsächlich preiswerter als konventionelle Stromquellen sein. Aber man braucht eine Absicherung für die Nacht und für dunkle und windarme Zeiten. Dafür eignen sich entweder regelbare Energiequellen wie Kernkraft oder fossile Energien, oder es sind Speicher im Terawattstunden-Maßstab nötig.
Beides macht eine auf Sonne und Wind fokussierte Energieversorgung teuer – das wird gerne verschwiegen. Ich sage es als Energiespeicher-Forscher ungern, aber einfache Rechnungen zeigen, dass konventionelle grundlastfähige Energie heute weniger teuer ist als Erneuerbare Energien plus Speicher. Der Weltklimarat IPCC sieht Kernkraft übrigens als CO₂-arme Energiequelle, die sich nach meiner Einschätzung gut mit Wind und Sonne ergänzt.
WELT: Kernkraft und fossile Energie aber schaltet Deutschland ab, konstante Energie fehlt damit. Und die Energiespeicher hierzulande können den Bedarf gerade mal für eine gute halbe Stunde decken. Der Bau eines Pumpspeichers in den Bergen dauert 15 bis 20 Jahre, sofern der Eingriff in die Landschaft überhaupt genehmigt wird. Die Regierung plant den Bau von 40 Gaskraftwerken, die allerdings CO₂ emittieren und sehr teuer sind. Gibt es Speicher-Alternativen?
Thess: Theoretisch ja. Es ist möglich, elektrischen Strom in eine Batterie oder einen Flüssigsalzwärmespeicher einzuspeichern, und es ist prinzipiell auch möglich, Strom in Wasserstoff umzuwandeln und den zu speichern. Das Problem ist, dass alle diese Möglichkeiten teurer sind als die konventionellen Energiequellen. Ich arbeite als Energieforscher daran, dass Speicher billiger werden, aber es dauert noch.
WELT: Wie weit sind Sie?
Thess: In der Technologie sprechen wir von „Reifegraden“: Wenn Sie beispielsweise ein Papierflugzeug im Uni-Hörsaal fliegen lassen, dann sind Sie bei Reifegrad 1, wenn ein Verkehrsflugzeug Passagiere nach Mallorca fliegt, haben sie den höchsten Reifegrad 9. Wir entwickeln sogenannte
Carnot-Batterien und sind bei Reifegrad 5 bis 6 angelangt. Das sind große Stromspeicher, die elektrische Energie mit einer Hochtemperatur-Wärmepumpe in thermische Energie umwandeln und sie in flüssigen Salzen speichern, in Behältern mit 30 Metern Durchmesser und 30 Metern Höhe. Diese über 500 Grad heiße Substanz liefert bei Bedarf über Dampfturbinen Strom. Solche Anlagen können für Städte von der Größe von Stuttgart die Energie für eine Nacht speichern. Konventionelle Batterien sind nur für deutliche kürzere Zeiten bezahlbar.
WELT: Deutschland will auf Wasserstoff setzen. Wasserstoff soll mit Sonnenenergie in den Subtropen hergestellt werden, nach Deutschland verschifft und hier in Strom umgewandelt werden. Das klappt prinzipiell, oder?
Thess: Wasserstoff ist ein wichtiger Energieträger, und Importe sind technisch möglich, aber Sie ahnen es …?
WELT: Die Kosten?
Thess: Genau. Die Herstellung von Wasserstoff und die anschließende Rückverstromung in elektrische Energie bedeuten jeweils Energieverluste, was die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Stromquellen mindert. Gelänge es, grünen Wasserstoff für weniger als 1 Euro pro Kilogramm zu erzeugen, dann wäre er begehrt. Aber diese Zahl halte ich in den nächsten 20 Jahren für unwahrscheinlich. Auch die angestrebte Herstellung von „grünem Stahl“ etwa, also von Stahl, der mit Hilfe von Wasserstoff aus CO₂-freier Energie hergestellt wird, ist heute leider noch nicht wettbewerbsfähig.
WELT: Die deutsche Energiewende ist der Traum von einer „All Electric World“, möglichst alles soll mit „grünem Strom“ elektrifiziert werden, auch der Verkehr. Was halten Sie von dieser Vision?
Thess: Technisch wäre das machbar, aber nach meiner Einschätzung unbezahlbar. Neben den Kosten für Erzeugung, Speicherung und Verteilung erneuerbarer Energie gibt es ein weiteres Problem: Die Kosten klimaneutraler Materialien für das künftige Energiesystem. Eine Tonne CO₂-neutraler Stahl, Aluminium, Glas oder Beton für den Bau der Wind-, Solar- oder Kernkraftwerke der Zukunft kostet mehr als die heutigen Materialien. Da Wind- und Solarkraftwerke pro erzeugter Kilowattstunde einen höheren Materialeinsatz haben als etwa Kernkraftwerke-Fachleute sprechen von Enery Return on Energy Invested (EROI) – sind sie von den Preisen künftiger klimaneutraler Materialien stärker betroffen. Deshalb halte ich eine All Electric World allein auf der Basis von Sonne und Wind nicht für ökonomisch tragfähig.
WELT: Die Hälfte des Stroms in Deutschland wird bald aus Erneuerbaren erzeugt, macht Ihnen das Hoffnung?
Thess: Nur rund 20 Prozent unseres gesamten Energiebedarfes wird über Strom gedeckt. Insgesamt haben Wind und Sonne einen Anteil von knapp 10 Prozent unseres gesamten Energiebedarfs. Ich würde die Energiewende an anderen Kriterien beurteilen.
WELT: Woran messen Sie den Fortschritt?
Thess: Das erste Kriterium wäre die Frage, ob Energie preiswerter geworden ist. Die Antwort lautet leider: nein. Die Industrie verlagert mittlerweile Produktion ins Ausland, und Strompreise für Privathaushalte sind weltspitze. Das zweite Kriterium wäre die Frage, ob Energie CO₂-arm ist. Die Antwort lautet ebenfalls leider: nein. Unser Nachbarland Frankreich emittiert pro Person nur fünf Tonnen CO₂ pro Jahr, während es bei uns fast doppelt so viel sind. Das dritte Kriterium wäre die Frage, ob die Energieversorgung sicherer geworden ist, und auch diese Antwort lautet leider: nein. Wenn wir nach 20 Jahren Energiewende und nach mehreren Hundert Milliarden Euro Subventionen keine internationale Wettbewerbsfähigkeit bei diesen drei Kriterien sehen, dann kann ich dieses Projekt beim besten Willen nicht als Erfolg bezeichnen.
WELT: Stromausfälle haben aber nicht zugenommen, warum also kritisieren Sie die Netzstabilität?
Thess: Die lässt sich anhand der Kosten und der Zahl der Regeleingriffe ins Netz bewerten – beide sind teurer und häufiger geworden. Der Aufwand ist erheblich gestiegen, um das Stromsystem stabil zu halten. Und wenn in Baden-Württemberg neuerdings eine App anzeigt, wann man Stromverbrauch mindern sollte, ist das leider auch kein Zeichen für Versorgungssicherheit.
Jetzt kommen bestimmt gleich wieder User, die es (nicht) besser wissen, weil wissenschaftlich nicht kompetent und posten wieder irgendwelche Links von irgendwelchen NGOs oder selbsternannten Experten wie Mycle Schneider, die das Gegenteil beweisen werden; man muss es nur ganz stark glauben.