Mit seinem kategorischen Nein zur Atomkraft steht Deutschland in der EU zunehmend allein da. Viele Staaten verlängern die Laufzeiten ihrer Meiler oder planen neue. Der designierte EU-Klimakommissar plant nun den Bruch mit der Energiepolitik der EU – und findet viele Unterstützer.
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Die kleine belgische Stadt Huy weckt wieder einmal die Aufmerksamkeit der großen Politik. Nicht weit vom Zentrum, am Ufer der Maas, ragen drei graue Türme in den Himmel, die Meiler des Atomkraftwerks Tihange. Nach der Entdeckung Tausender Risse im Beton forderten 2017 mehr als 50.000 Demonstranten die Abschaltung. Ein Reaktor ging bald darauf vom Netz. Ein weiterer dürfte 2025 folgen. Doch der dritte, so kündigte es kürzlich die belgische Regierung an, soll bis 2035 laufen – zehn Jahre länger als geplant.
Umweltschützer schrieben deshalb vor einigen Tagen einen empörten Brief an die EU-Kommission in Brüssel. Die Behörde muss über Subventionen für Tihange 3 entscheiden, könnte die Pläne der Belgier also noch durchkreuzen. Auch vor Ort, in Huy, wurde erneut protestiert. Ändern dürfte all das wenig.
Die Atomkraft erlebt ein Comeback, nicht nur in Belgien. Auch Frankreich, Polen, Ungarn, Bulgarien, Slowenien, Tschechien und die Niederlande lassen alte Meiler länger laufen oder planen neue. An das Versprechen der deutschen Politik – billiger Strom allein durch erneuerbare Energie – glauben sie nicht. Sogar die Kommission, in der Vergangenheit gegen alles Nukleare, schwenkt um. Seit einem Jahr ist dort der Niederländer Wopke Hoekstra für die Rettung des Klimas zuständig.
Er ist ein Befürworter von Atomstrom. Und Präsidentin
Ursula von der Leyen will ihn in der neuen Legislaturperiode, die im November beginnt, auf dem Posten belassen. Dem muss das EU-Parlament aber noch zustimmen.
„Die Debatte um Atomkraft ist sehr emotional, vor allem in Deutschland“, sagt Hoekstra WELT AM SONNTAG. „Und natürlich müssen wir unbedingt mehr Windräder und Solaranlagen bauen.“ Er macht eine kurze Pause, und man hört das Aber, ehe er es ausspricht. „Aber wir benötigen auch einen Übergangsbrennstoff.“ Kernenergie sei eine mögliche Lösung. „Europa“, meint der EU-Kommissar, „sollte da nicht schüchtern sein.“
Es ist ein regnerischer Abend im September, Hoekstra empfängt in einem kleinen Konferenzzimmer. Er sitzt auf einem roten Sessel, durch das bodentiefe Fenster hinter ihm fällt der Blick auf den Campus der Technischen Universität Eindhoven: Wiesen, Bäume, Teiche, umgeben von Bauten aus den 1960er-Jahren. Hoekstra hat hier vor wenigen Minuten eine Rede zur Eröffnung des neuen Semesters gehalten. Die Hochschule im Süden der Niederlande zählt zu den besten der Welt. Ihre Studenten beschäftigten sich viel mit erneuerbaren Energien – aber auch mit der Spaltung von Atomen.
Hoekstra, 49 Jahre alt, ist der Nachfolger von Frans Timmermans, der 2023 in die niederländische Politik zurückkehrte. Ein hochgewachsener Mann mit Humor und Hang zum Pragmatismus. Ehe Hoekstra Klimakommissar wurde, hatte er eine steile Karriere in den Niederlanden hingelegt: Senator, Finanzminister, Außenminister. Davor arbeitete er bei McKinsey und
Shell. Grüne Politiker halten ihm das bis heute vor.
Nun, in Brüssel, will Hoekstra zwei Dinge auf einmal: die Umwelt retten und den Standort Europa. Er treibt den Green Deal voran, also das Vorhaben der EU, bis 2050 klimaneutral zu werden. Er möchte aber auch die Bedingungen für die Wirtschaft verbessern und zum Beispiel die Energiepreise senken. Eine Möglichkeit, beide Ziele zu vereinbaren, meint er, sei die Atomkraft.
„Wir sollten die ideologischen Debatten hinter uns lassen“, sagt Hoekstra in dem Konferenzzimmer in Eindhoven. „So wie das zum Beispiel Finnland tut.“ Egal ob die Regierung dort grün, sozialdemokratisch oder konservativ sei, sie unterstütze die Kernenergie und wolle die Kraftwerke einfach so sicher wie möglich machen. Die Finnen betrachteten das Thema wissenschaftlich, nicht politisch. „Ich denke“, sagt Hoekstra, „das ist der richtige Weg.“
Andere in dem Team, das Ursula von der Leyen für ihre zweite Amtszeit zusammengestellt hat, sehen es ähnlich. Einer ist Dan Jørgensen, ein Sozialdemokrat aus Dänemark. Er soll Kommissar für Energie werden. Jørgensen, hört man in Brüssel, wolle das Thema Atomkraft ähnlich wie Hoekstra angehen: nüchtern und ohne große Emotionen. Von der Leyen hat ihn beauftragt, die Entwicklung kleiner modularer Reaktoren zu beschleunigen. Die sollen sicherer als heutige Kraftwerke sein und weniger strahlenden Müll produzieren.
Widerstand bröckelt
Selbst Teresa Ribera, eine Linke aus Spanien und Reizfigur für die Atomlobby, scheint ihren Widerstand aufzugeben. Sie dürfte einen Posten als Kommissionsvize erhalten, wäre damit nach von der Leyen die mächtigste Frau in Brüssel. Als Umweltministerin unter Regierungschef Pedro Sánchez trieb Ribera den Atomausstieg ihres Landes voran.
Nun hat von der Leyen sie für ein Portfolio namens „sauberer, fairer und wettbewerbsfähiger Übergang“ nominiert. Sie soll – gemeinsam mit Hoekstra und Jørgensen – Europas Wirtschaft klimafreundlich machen.
Ribera sagte kürzlich in Brüssel, sie werde einem Ausbau der Kernkraft nicht im Weg stehen. Sie rechnet wie viele Politiker und Ökonomen mit einem starken Anstieg des Strombedarfs in Europa. Der Kontinent steht vor einem Dilemma. Neue Technologien – etwa Elektroautos und künstliche Intelligenz – benötigen enorme Mengen Energie. Zugleich fällt Russland als Lieferant für billiges Gas aus. Und erneuerbare Quellen können die Nachfrage noch nicht decken. Bleiben die grauen Meiler, die an den Ufern vieler europäischer Flüsse aufragen.
„
In der Kommission hat sich die Meinung total gedreht“, erzählt ein Beamter. „Vor Russlands Angriff auf die Ukraine waren hier alle gegen Kernkraft, jetzt glauben viele plötzlich: Es geht nicht mehr ohne.“ Brüssel ist begeistert von der Atomenergie wie lange nicht. Anfang des Jahres stufte die EU sie sogar als „strategische Technologie“ ein. Behörden können Fabriken, die zum Beispiel Teile für Reaktoren herstellen, damit schneller genehmigen. So etwas war zuvor nur im Bereich der erneuerbaren Energien möglich. Nun ist die Spaltung des Atoms dem Wind und der Sonne gleichgestellt.
Was genau könnte Brüssel noch für die Kernkraft tun? Es gibt mehrere Ideen, die meisten kommen aus Frankreich, einem Land mit 58 Meilern. Die Regierung in Paris fordert etwa EU-Töpfe zur Finanzierung neuer Kraftwerke und die Hilfe der Europäischen Investitionsbank (EIB).
Seit der Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011 gab das Institut vor allem Geld für erneuerbare Energien. Doch das dürfte sich jetzt ändern. Die neue EIB-Präsidentin Nadia Calviño befürwortet Kredite für die Atomindustrie. Wopke Hoekstra hat also dort eine Mitstreiterin.