Dass man damit Geld verdient, liegt allerdings nicht an den vermeintlichen Fehlern oder Unklarheiten (sehe ich in der Tat anders) der VO, sondern daran, dass sich die Fluggesellschaften auch dann nicht in der Pflicht fühlen, wenn die Rechtslage eindeutig ist. Und das ist in neun von zehn Fällen so.
Präzise oder nicht, rechtstreu oder nicht – die VO ernährt Dich, deshalb darfst Du sie meinetwegen auch ein bisschen lieb haben wie ein hässliches, gehbehindertes Hündchen (die VO, nicht Du!).
Was den Begriff des "Fluges" anbelangt, bedurfte der ja nur deswegen der Auslegung, weil sich deutsche Gerichte international nicht zuständig fühlen wollten. War also eigentlich gar keine Frage DIESER VO, sondern eher die der EuGVVO. Inzidenter ging es um den "Flug"-Begriff. Hätte man mit demselben Ergebnis auch anders lösen können.
Der Anlass ist mir herzlich egal. Wäre es nicht dieser gewesen, hätte es einen anderen gegeben. Tatsache bleibt: Es kommt jemand mit einer Verordnung über
Fluggastrechte daher und erklärt nicht, was er damit meint – obwohl es bei nahezu jedem Fall genau darauf ankommt, was einen Flug ausmacht. Eine juristische Lachnummer in meinen Augen.
Dass relativ viele Fälle vorm EuGH landen, halte ich ehrlich gesagt eher für ein deutsches Problem. Man muss sich ja nur ansehen, wie groß der Anteil jener EuGH-Entscheidungen ist, bei denen die Vorlage entweder vom BGH oder von anderen deutschen Gerichten gekommen ist. Denkt man sich die "deutschen Fälle" aus der Rechtsprechung des EuGH zur EU-VO weg, könnte man den Eindruck haben, dass der Verordnungsgeber hier eine ziemlich solide Arbeit abgeliefert hat.
Kann man so sehen, ist aber in meinen Augen eher ein Beweis für die Zugänglichkeit und Leistungsfähigkeit des deutschen Rechtssystems. Klag doch mal in Palermo auf 600 €. Oder frag doch mal beim Kassationshof, wo man selbst schwierigste Rechtsfragen mit ein paar Sätzen wegbügelt, ob man sich wie der zuständige Senat beim BGH die Arbeit machen mag, ein ums andere Mal aus dem Brüsseler und Straßburger Stroh Gold zu spinnen.
Kurz: Ich halte die EU-VO gelungen, nicht aber die Fähigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit, mit dieser umzugehen. Das ist ein riesiges Missverständnis: Hierzulande geht es immer um Verschulden, die teleologische Auslegung ist nur eine von mehreren Methoden - und meiner Meinung nach nicht die entscheidende. Europa denkt eher pragmatisch. Die Frage, was will die VO erreichen, überragt die grammatikalische, die systematische und die historische Auslegung bei weitem.
Die teleologische Auslegung sei nicht die entscheidende, aber die Frage, was die VO erreichen will, überrage die anderen Auslegungskriterien? – Verstehe ich nicht. – Wenn nicht die obersten Gerichte mit diesem Stück Gesetzgebungskunst sehr großzügig zweckgerichtet umgehen würden, bliebe nur der systematische Scherbenhaufen, den es in Wahrheit darstellt: man denke nur an die komplett verfehlte Aufspaltung von Flug-Streichungen und Flug-Verspätungen.
Was ich mir allerdings wünsche (das wiederhole nun wiederum ich gebetsmühlenartig), ist eine dramatisch stärkere Sanktionierung von Verstößen durch die nationale Aufsichtsbehörde. Die Kontrolle versagt meiner Meinung nach vollständig. Echte Strafen für Fluggesellschaften, die ihren fluggastrechtlichen Pflichten (bei eindeutiger Rechtslage) nicht nachkommen, würden Anwälte in diesem Rechtsbereich weitgehend arbeitslos machen.
Die dazu nötige Behörde dann bitte auch gleich sachlich und personell erweitern auf: Bankgeschäfte, Telekommunikationsverträge, Versicherungsverträge, Gebrauchtwagenhändler, Neuwagenhändler, Handwerker aller Art, Hundehalter und Tomaten aus Holland.
Um zum Thema zurückzukommen. Ich hätte keine Probleme damit, die VO dahin zu erweitern, Fluggästen zumindest nach Verfügbarkeit zu ermöglichen, auch auf einen Flug zeitlich vor dem geplanten umzubuchen. Ist aber meiner Meinung nach überhaupt kein Zankapfel, weil im Zweifel jede Fluggesellschaft das ja gerne macht, wenn die Alternative wäre, auf Fremdunternehmen umzubuchen oder Flugscheinkosten zu erstatten. Und wie gesagt: Wenn gar nichts angeboten wird oder nur eine unzumutbare Ersatzbeförderung, bestehen zumindest meiner Meinung nach keine Bedenken, auch jenen Schaden zu ersetzen, der nur deswegen entsteht, weil der Pax sich einen Flug vor dem geplanten Termin bucht. Leider sieht das LG Potsdam (und damit das AG Königs Wusterhausen) das etwas anders. Aber im Rest der Republik sollte das kein größeres Problem sein.
Jetzt hängst Du aber im Verschuldenserfordernis, das wir doch eigentlich zum Wohle des Fluggasts möglichst zurückdrängen wollen. Wenn nämlich die VO die Fluglinie nicht dazu zwingt, den Fluggast auf dessen Wunsch hin auf eine Verbindung umzubuchen, die ihn früher (aber dadurch noch rechtzeitig) an sein Endziel bringt, dann bleibt Dir als schuldhafte Pflichtverletzung nur die Nicht- oder Zuspätbeförderung.
Ich wiederhole mich: ein gutgemeintes, sehr nötiges, aber sehr schlecht gemachtes Stück Gesetz.