SPIEGEL: Herr Jäger, Unternehmen können rund zwei Millionen Stellen nicht besetzen. Lehrerinnen und Lehrer, Kitapersonal, Pflegekräfte oder IT-Spezialisten werden händeringend gesucht. Und Sie behaupten, es gebe keinen Fachkräftemangel?
Simon Jäger: Ja, die These vom Fachkräftemangel stimmt so nicht.
SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf?
Jäger: In der Debatte müssen wir zwei Situationen auseinanderhalten: die Lage jetzt und in der Zukunft. Aktuell gibt es in Deutschland so viele Erwerbstätige wie nie – 45,9 Millionen, die besser ausgebildet sind als alle früheren Jahrgänge. Unternehmen beschweren sich seit 40 Jahren über den Fachkräftemangel. Dafür gibt es jedoch eine einfache marktwirtschaftliche Lösung: höhere Löhne. Wenn einem Unternehmen Fachkräfte fehlen, kann es das eigenständig ändern. Bietet es höhere Löhne oder auch bessere Arbeitsbedingungen an, wird es attraktiver.
SPIEGEL: Und wenn sich ein Unternehmen das nicht leisten kann?
Jäger: Natürlich hängt es zum Beispiel bei Friseurinnen und Friseuren davon ab, welchen Preis Kunden bereit sind zu zahlen. Das ändert aber nichts daran, dass insgesamt keine Arbeitskräfte fehlen, sie sind nur woanders. Insofern lautet die entscheidende Frage: Wer arbeitet wo? Wir wissen aus verschiedenen Studien, dass Menschen auf Arbeitsplätze wechseln, die gute Löhne und Arbeitsbedingungen bieten – und dort auch seltener kündigen. Es gibt also eine einfache marktwirtschaftliche Lösung.
SPIEGEL: Der Markt regelt also alles?
Jäger: Wenn Unternehmen Arbeitskräfte suchen oder an sich binden wollen, werden sie mehr bezahlen oder bessere Arbeitsbedingungen schaffen. Aber denken Sie an das vergangene Jahr: Da gab es massive Reallohnverluste für die Beschäftigten, bei gleichzeitig höchstem Beschäftigungsstand. Das passt nicht zu der These des Fachkräftemangels. Wir haben ökonomisch eine ungewöhnliche Situation: Arbeitskräfte werden gesucht, aber die Reallöhne sind gefallen. Im Übrigen können dieser empfundene Fachkräftemangel und die Preissignale, die der Markt sendet, auch gesellschaftlich erwünscht sein.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Jäger: Wenn wir uns die langfristige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt anschauen, sehen wir: Über die letzten 30 Jahre stagnierten die Einkommen im Niedriglohnbereich im Durchschnitt kaufkraftbereinigt, obwohl unsere Produktivität insgesamt stark gestiegen ist. Die unteren Einkommen haben von der wirtschaftlichen Entwicklung lange kaum profitiert. Gerade dort, wo Löhne niedrig waren, ist nun aber der Druck besonders groß.
SPIEGEL: Durch den demografischen Wandel wird die Anzahl der Arbeitskräfte, die dem Arbeitsmarkt zukünftig zur Verfügung stehen, sinken. Werden nicht spätestens dann die Fachkräfte knapp?
Jäger: Wir sind eine alternde Gesellschaft. Perspektivisch wird das Erwerbspersonenpotenzial stark sinken, also die maximale Anzahl verfügbarer Arbeitskräfte im erwerbsfähigen Alter geht zurück. Man kann hier aber durchaus effektiv gegensteuern.
SPIEGEL: Die Fachkräftestrategie der Bundesregierung sieht eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, eine moderne Einwanderungspolitik und gezielte Weiterbildungsmaßnahmen vor. Sind das die richtigen Schritte?
Jäger: Die Gesellschaft muss entscheiden, welche Antworten sie auf diese Fragen möchte. Das ist eine politische Entscheidung. Wenn die Gesellschaft möchte, dass der Arbeitsmarkt in Deutschland nicht schrumpft, sind verschiedene Maßnahmen zielführend. Hochmobile, internationale Fachkräfte wägen ab, ob sie in die USA, nach Schweden oder in die Schweiz gehen. Um in diesem Wettbewerb zu bestehen, sind höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und langfristige Perspektiven in Deutschland notwendig. Und mit dem Ehegattensplitting steht der Staat bei der Erwerbsbeteiligung von Frauen selbst auf der Bremse.
SPIEGEL: Gemessen am Arbeitskräftebedarf wird trotzdem zukünftig Personal fehlen.
Jäger: Wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer knapp sind, müssen wir dafür sorgen, dass sie dort eingesetzt werden, wo sie den höchsten Mehrwert schaffen. Die Verteilung der Arbeitskraft ist entscheidend.
SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel?
Jäger: Lehrkräfte sind ein gutes Beispiel. Die Arbeitsbedingungen in Schulen sind nicht verlockend, die Lehrkräfte sind frustriert. Hervorragend ausgebildete Arbeitskräfte wechseln häufig nicht aus der freien Wirtschaft in den Lehrerberuf, selbst wenn sie gern an einer Schule arbeiten würden. Das liegt auch daran, dass wir unsere Schulen mit zu wenig Ressourcen ausstatten.
SPIEGEL: Höhere Löhne in Kitas, Pflegeheimen oder im öffentlichen Dienst führen zu höheren Kitagebühren, Krankenkassenbeiträgen oder Steuerzahlungen.
Jäger: Diese Diskussion wird nicht offen genug geführt. Tatsächlich ist die Debatte über den Fachkräftemangel eigentlich eine gesellschaftliche Debatte darüber, in welchen Bereichen wir unsere Ressourcen einsetzen möchten. Es gibt nichts umsonst. Das ist der Kern. Der empfundene Fachkräftemangel ist nur ein Symptom des zugrunde liegenden Problems: die Verteilung knapper Ressourcen.
SPIEGEL: Im Jahr 2022 arbeiteten 19 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor, sie verdienten weniger als 12,50 Euro pro Stunde. Gibt es für diese Menschen einen Ausweg?
Jäger: Wir konnten in unserer Forschung nachweisen, dass insbesondere im Niedriglohnbereich viele Arbeitnehmer in Deutschland unterschätzen, wie viel Geld sie woanders verdienen könnten. Sie werden also tatsächlich schlechter bezahlt als sie denken. Wenn sie darüber informiert werden, was vergleichbare Beschäftigte verdienen, suchen sie verstärkt einen anderen Job oder verhandeln nach. Die Niedriglohnfalle am unteren Ende der Lohnverteilung hat also auch etwas mit der Transparenz der Löhne zu tun.
SPIEGEL: In Österreich müssen Arbeitgeber in Stellenanzeigen eine Lohnuntergrenze angeben. Verhilft diese Transparenz Arbeitnehmern zu höheren Löhnen?
Jäger: Studien aus mehreren Ländern legen nahe, dass solche Lohntransparenz zu mehr Wettbewerb führt und Firmen daraufhin tendenziell die Löhne erhöhen.
SPIEGEL: Die Generation Z der ab Ende der Neunzigerjahre Geborenen hat ein anderes Verhältnis zur Erwerbsarbeit als die Generationen vor ihr: Teilzeit ist begehrt, Überstunden sind es weniger. Zeit ist kostbar, die Zukunft ungewiss, und der Lebensstandard der eigenen Eltern scheint ohnehin nicht erreichbar. Was tun wir, wenn die Leute künftig einfach nicht mehr so viel arbeiten wollen?
Jäger: Es hilft, den Menschen mehr Flexibilität in ihrem Arbeitsleben einzuräumen. Eine Doktorandin von mir hat untersucht, wie sich die Option für eine flexible Arbeitszeitgestaltung in Australien ausgewirkt hat: Junge Mütter arbeiten häufiger und mehr – und die sogenannte Motherhood Penalty ist geschrumpft. Das bedeutet: Die Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen nach der Geburt des ersten Kindes hat sich weniger stark geöffnet. Die Reform ist ein gutes Beispiel dafür, wie die gesamtwirtschaftlich geleisteten Arbeitsstunden steigen könnten, wenn die Menschen flexibler über ihre Arbeitszeit bestimmen können.
SPIEGEL: Bislang sind in Deutschland recht starre Vertragsmodelle üblich – entweder 20 oder 40 Stunden.
Jäger: Viele Firmen in Deutschland praktizieren bereits flexible Arbeitszeitmodelle, häufig in erfolgreicher Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat. Zukünftig wären auch andere Modelle denkbar, von denen nicht nur jüngere, sondern auch ältere Arbeitskräfte profitieren. Arbeitnehmer und Arbeitgeber könnten flexibel den Arbeitsumfang zwischen null und 100 Prozent vereinbaren. Manche Menschen möchten 80 Prozent, andere 60 Prozent. So könnten ältere Arbeitnehmer beispielsweise öfter ihre Enkelkinder betreuen und weiterhin arbeiten. Insgesamt könnte diese erweiterte Flexibilität dazu führen, dass deutschlandweit mehr gearbeitet wird.
SPIEGEL: Wäre das auch eine Alternative zur generellen Erhöhung des Renteneintrittsalters?
Jäger: Die Flexibilisierung der Arbeitsstunden könnte die Debatte über das Renteneintrittsalter zumindest ein wenig beruhigen. Arbeitnehmer könnten länger arbeiten – aber mit weniger Stunden pro Woche. Viele Menschen verspüren den Wunsch, Kollegen bei der Arbeit zu treffen, erfüllende Tätigkeiten auszuüben oder ihr Wissen an junge Kollegen weiterzugeben. Wer sich eigenständig und flexibel entscheidet, weniger zu arbeiten, bleibt trotzdem dem Arbeitsmarkt erhalten. Zur Stabilisierung des Rentensystems werden aber weitere Stellschrauben, auch das Renteneintrittsalter, wichtig bleiben.