Tag 32
Schon vor einigen Monaten hatte ich von +1 erfahren, dass es seiner Tante nicht besonders gut gehen würde. Die Eltern von +1 machten sich offenbar täglich auf den Weg zu ihr, um sie mit Essen zu versorgen, sowie um sich um ihren Haushalt und ihre dringendsten Bedürfnisse zu kümmern. Auch als die Tante für eine Darm-OP im Krankenhaus war, mussten meine Schwiegereltern sie jeden Tag besuchen, um ihre Versorgung sicherzustellen. Offenbar ist in den öffentlichen Krankenhäusern in Thailand keine Rundumversorgung garantiert.
+1 und ich machten uns heute auf den Weg zu jener Tante in die Nachbarstadt Warin Chamrap, um sie mit einer Portion der thailändischen Süßspeise
Thapthim Krop zu versorgen, die wir unterwegs in einem sehr beliebten Geschäft für dieses Dessert kauften.
Ich wusste nicht genau, was mich vor Ort im Haus der Tante erwarten würde. Als jemand, der seinen Zivildienst in der Altenpflege absolviert hatte, ist mir der Anblick von pflegebedürftigen Personen nicht fremd. Dennoch war ich erschrocken. Die Tante bestand allein aus Haut und Knochen und hatte ein aufgedunsenes Gesicht. Sie lag seitlich gekrümmt im Bett, wurde von zwei Ventilatoren mit Luftzug versorgt (bei knapp 40°C Lufttemperatur) und hatte den Fernseher laufen. Sie nahm unser Eintreffen zur Kenntnis und erwiderte unsere Begrüßung.
Sie streckte die Hand nach +1 aus und drückte sie mehrfach. Wiederholt äußerte sie “Cheb Thong”, was soviel bedeutet wie “Ich habe Bauchschmerzen.” +1 bot ihr die mitgebrachte Leckerei an, was sie ebenso ablehnte wie das Angebot, ihr etwas von den verschiedenen vorhandenen Speisen aufzuwärmen und ihr zu reichen. Sie wiederholte, dass sie Bauchschmerzen habe, und nichts essen könne.
+1 unterhielt sich ein wenig mit ihr, während ich versuchte, die Gesamtsituation für mich einzuordnen. Meiner Einschätzung nach gehörte die Tante dringendst in ein Krankenhaus eingeliefert. Auf der Rückfahrt äußerte ich +1 gegenüber mein Unverständnis, warum die Tante allein zu Hause offenbar unter Schmerzen vor sich hin vegetierte. +1 erklärte mir, dass die Tante es nicht anders wolle. Ein längerfristiger Aufenthalt in einem öffentlichen thailändischen Krankenhaus, der hier sicherlich geboten wäre, sei kein Vergnügen, denn es gäbe weder Klimaanlage noch irgendwelche Privatsphäre. Nach den bisherigen Krankenhauserfahrungen wäre das keine Option für sie.
Es war mir schon vor dieser Begegnung klar, dass in Thailand, wie in vielen Teilen auf diesem Planeten, keine mit Deutschland vergleichbaren Sozialversicherungen existieren. Es ist die Familie, die hier die Verantwortung übernimmt, die wir in unserer Welt dem Staat bzw. den (Sozial-)Versicherungen übertragen haben. Jene Tante, die zeitlebens partner- und kinderlos blieb, kann sich offenbar auf ihre Schwester und deren Familie verlassen, wenngleich ich von +1 erfahren musste, dass diese langsam an ihre Belastungsgrenze stoßen.
+1 hatte während dieses Thailandaufenthaltes schon mehrere Besuche bei der Tante hinter sich und womöglich deshalb schon eine gewisse Distanz zu der Situation entwickelt, die mir noch fehlte. Ich versuchte mich an die Distanz zu erinnern, die ich während meines o.g. Zivildienstes entwickelt hatte, da ich mich auch hier nicht in der Lage sah, an dem Leid mancher Bewohner etwas grundlegend ändern zu können.
Gegen MIttag sollten wir dann in ein vietnamesisches Restaurant einkehren, das ich bereits seit meinem ersten Besuch in Ubon Ratchathani kannte und mit +1 regelmäßig besucht habe. Wie üblich bestellte +1 die Reiblattrollen zum Selberbasteln. Man erhielt Reisblätter, Salatblätter, Kräuter, junge Bananenstücke, Knoblauch, Chilie sowie zwei Saucen und eine Schale Wasser, um die Reisblätter geschmeidig und formbar zu machen.
Kurz darauf wurden u.a. die Fleischspieße (etwas rechts der Bildmitte) an den Tisch gebracht, die man in kleine Stücke zerteilt, um sie dann auf die aufgeweichten Reisblätter, auf die man zuvor Salat, Kräuter und Gemüse gelegt hat, zu drappieren. Nachdem man dann noch eine ordentliche Menge Sauce darauf gegeben hat, wickelt man das Ganze ein und genießt es!
Als wäre dieses Highlight noch nicht genug, haben wir uns noch für Frühlingsrollen mit viel Minze, etwas Fleisch und Pansen (oben links) sowie für Nudeln mit einer Art Kokosnussbolognese (links) entschieden.
Am Nachmittag haben wir uns dann mit einer guten Freundin von +1 getroffen, die uns von ihrem aktuellen Bauprojekt hier vor Ort berichtet hat. +1 hat mir ihr die Baustelle besichtigt, während ich die Zeit für intensive Kommunikation mit der Heimat genutzt habe.
Gegen Abend begaben +1 und ich uns dann wieder zusammen zur Nahrungsaufnahme. Es sollte die lokale Küche Nordostthailands werden. Das Restaurant, das sich übersetzt in etwa “Papayasalat Ladyboy” nannte war laut Google gut bewertet und zauberte eine gute Qualität zum günstigen Preis auf den Tisch, wenngleich die schmächtigen sehr jungen Bedienungen eher echte Schülerinnen als Ladyboys waren.