Ich sehe das ganz anders als longhaulgiant.
Preisstabilität ist und bleibt das Hauptziel der EZB. Es ist unter monetären Ökonomen unumstritten, dass es 1-2 Jahre dauert, bis sich eine geldpolitische Änderung auf Output und Preisniveau ausgewirkt hat.
Wir hatten einfach eine Serie von adversen Kostenschocks. Das kommt nicht so oft vor. Wenn die Zentralbank die Inflationswirkung der cost-push shocks offsetten will, geht das nur durch Herbeiführung einer herben Rezession. Und zwar nicht sofort, sondern ebenfalls nur mit Verzögerung. Denn, ich wiederhole, die kontemporären Effekte der Geldpolitik sind sehr begrenzt. "Monetary policy affects the economy with long and variable lags" ist ein geflügeltes Wort unter monetären Ökonomen und Geldpolitikern in der Praxis (geht zurück auf Milton Friedman).
Ist es wirklich eine Rezession in 22/23 wert, um die Inflation runterzukriegen? Denn es bestehen sehr gute Chancen, dass die Inflation bis dahin von selbst zurück geht.
Außerdem ist eine etwas höhere Kerninflation wünschenswert. Wir haben seit 2007 wiederholt gesehen (und im letzten Jahrhundert in Japan), dass der "zero lower bound" ein ernsthaftes Problem ist. Die Zinsen können eben nicht unter null Prozent (oder etwa minus 0,5 Prozent, wenn man die Kosten der Geldaufbewahrung berücksichtigt) fallen. Und aufgrund der rund um die Welt gesunkenen Realzinsen ist der zero lower bound eine ernste Bedrohung. Denn wir ganzen neuen Programme (PEPP, APP usw.) sind kein vollwertiger Ersatz für konventionelle Geldpolitik im Sinne von Offenmarktoperationen.
Es gibt zudem neuere Literatur, die die wohlfahrtsmaximierende Inflationsrate bei über 2% bzw. im Bereich zwischen 2 und 3 Prozent sieht (vgl. etwa das Paper
hier, das im Journal of Monetary Economics erscheinen wird).
Dass es neben der Preisstabilität andere Ziele gibt, wie longhaulgiant ebenfalls anführt, ist richtig. Aber zum Beispiel bei der makroprudentiellen Politik liegt heute (im Gegensatz zu Finanz- und Eurozonenkrisen) nicht mehr alle Verantwortung bei der EZB.
Ich denke schon, dass die Geldpolitik ihre nach wie vor akkommondierende Ausrichtung aufgeben muss, wie sie das auch angekündigt hat. Aber ich bin der Meinung, dass diejenigen, die vor einer dauerhaften Inflation sprechen, falsch liegen.
Die Gründe für die Inflation und auch die etwas höhere Kerninflation (3,8%) liegen meiner Meinung nach überwiegend angebotsseitig. Es ist nicht der Fall, dass mittel- und langfristige Inflationserwartungen bedrohlich hoch sind. Fakt ist etwa, dass das Survey of Professional Forecasters die Inflation für 2024 bei 1,9% sieht. Auch die Anleihespreads sind ein klares Indiz dafür, dass mittel- und langfristige Inflationserwartungen nahe dem Inflationsziel der EZB verankert sind.