Ohne Streik hätte die Lotsen vermutlich meine volle Rückendeckung für ihre Forderungen, sie klingen zumindest ganz vernünftig und nicht überzogen. Mit Streik haben sie sich moralisch selbst disqualifiziert.
Moralkategorisch besteht nun einmal gerade kein Unterschied, ob sich jemand an der Siko vordrängelt, um seinen Flieger zu erwischen (sodass alle anderen in der Schlange 5 Minuten länger warten müssen) oder ob die USA ein Bauernhaus bombardieren, in dem sie einige Kombattanten vermuten, in dem sich allerdings auch Frauen und Kinder aufhalten. Das ist exakt dieselbe Moralkategorie.
Und ich denke, die meisten Menschen werden zustimmen, dass es nicht in Ordnung ist, sich bei langen Schlangen vorzudrängen, um damit einen eigenen Vorteil auf Kosten anderer zu erzielen (wobei diese "anderen" in diesem Fall streng genommen immerhin "Beteiligte" sind, sie stehen ja ebenfalls in der Schlange). Erstaunlicherweise gehen die Meinungen bei der Bombardierung des Bauernhauses schon eher auseinander, zahlreiche amerikanische Unmenschen (evtl. sogar die Mehrheit der Bevölkerung) finden dieses Vorgehen nämlich in Ordnung, in Kommentarbeiträgen zu entsprechenden Medienberichten liest man etwa Begründungen wie "Selber schuld, was leben sie auch in diesem Terroristengebiet", "Die sollen halt aufpassen, mit wem sie zusammen in einem Haus sind", "Das ist halt Krieg, da sterben nunmal Menschen", "Mitgefangen, mitgehangen" usw. – alles Begründungen, die einen Mangel an aufgeklärter Moral vermissen lassen, aber wen wundert das in einem in so vielen Bereichen rückwärtsgewandten Pseudo-Gottesstaat wie den USA, wo alttestamentarische Prinzipien wie "Todesstrafe", "Auge um Auge" und das "Recht des Stärkeren" auch heute noch allgemein akzeptiert werden.
Nun sind kategorische Imperative (wie der von Kant) das eine, denn natürlich gibt es immer Ausnahmen und Sonderfälle. Nur weil etwas "grundsätzlich" unmoralisch ist, ist es nicht in allen konkreten Fällen ausnahmslos unmoralisch.
Auf unsere aktuelle Diskussion über "die Moralität hinter der Schädigung Unbeteiligter zum eigenen Vorteil" übertragen, könnte man zum Beispiel argumentieren, dass es durchaus mal "okay" ist, sich an der Siko vorzudrängeln, wenn man sonst den Flieger versäumen würde, was etwa dazu führen würde, dass man einen Millionendeal verliert oder dass man es nicht mehr zum sterbenden Bruder in die Klinik schafft, um sich von ihm zu verabschieden. Die hier letztlich gestellte Frage ist dann also: "Ist es nicht in Ordnung, 30 unschuldige Leute jeweils 5 Minuten länger in der Schlange warten zu lassen, wenn dafür ein Millionendeal gerettet werden oder man sich vom sterbenden Bruder verabschieden kann?" Solche Fragen sind in der Tat oft nicht leicht zu beantworten, da es schwierig ist, objektiv zwischen den gewonnen Gütern (dem Nutzen einzelner oder weniger) und den verlorenen Gütern (dem Schaden oft vieler Unbeteiligter) abzuwägen.
Eine andere Ausnahme ist der Fall, dass der Schaden für die Unbeteiligten so minimal ist, dass nach menschlichem Ermessen davon ausgegangen werden kann, dass sie ihn entweder gar nicht bemerken oder aber dass sie, wenn man sie einzeln fragen würde, ihre Zustimmung geben würden. Ein Beispiel wäre etwa, wenn eine Gruppe von Leuten nur ein paar Sekunden wegen des Egoismus einer anderen Person warten muss. Das macht den allermeisten Menschen gar nichts aus.
Letztlich gehen diese Ausnahmen also immer davon aus, dass der Nutzen des "egoistischen Handelns" am Ende den dadurch für Unbeteiligte entstehenden Schaden überwiegt. In solchen Fällen kann man also zumindest darüber diskutieren, ob man grundsätzlich unmoralisches Handeln nach einer sorgfältigen Interessenabwägung nicht doch ausnahmsweise rechtfertigen/gutheißen kann.
Bei Streiks von kleinen Gruppen, die durch ihre exponierte Position einen sehr großen Kollateralschaden verursachen, gelten solche Ausnahmen von der grundsätzlichen Regel allerdings gerade nicht, sie sind vielmehr ein Musterbeispiel für unmoralisches Handeln, das einen in der Summe kleinen Vorteil für wenige zu Lasten eines in der Summe viel größeren Nachteils für viele Unbeteiligte zu Ziel hat.
Nun kann man sich natürlich fragen, wie es dazu kommen konnte, dass solch ein unmoralisches Handeln sogar grundgesetzlich garantiert ist? Wie konnte das Rechtssystem derart versagen? Die Antwort liegt hier sicherlich in der Geschichte. Als Streiks "erfunden" wurden, sah die Welt und die Wirtschaft vollkommen anders aus, es gab keine Vernetzung, keine Globalisierung, kein "just in time", keine extreme Arbeitsteilung. Insofern waren die Kollateralschäden früher grundsätzlich viel kleiner, die Arbeitsbedingungen und der Schutz der Arbeiter jedoch viel schlechter als heute. Kurzum: Früher lag in der Tat häufig eine Notwehrsituation vor, es ging nicht selten um die nackte Existenz. Auf der anderen Seite hatten Streiks gleichzeitig nur lokale und regionale Auswirkungen auf Unbeteiligte, und diese Unbeteiligten waren größtenteils auch stillschweigend mit den Unannehmlichkeiten eines Streiks einverstanden, schließlich konnte es sie beim nächsten Mal selber treffen. Oft lag also die oben skizzierte moralische Ausnahme des stillschweigenden Einverständnisses unbeteiligter Geschädigter vor. So oder so waren Streiks ursprünglich aber daraus ausgerichtet, den Tarifpartner mehr zu treffen als Unbeteiligte. Auch hier also eine Güterabwägung: "große soziale Fortschritte durch weniger unmenschliche und existenzbedrohende Arbeitsbedingungen" vs. "überschaubare Kollateralschäden für Unbeteiligte, die letztlich aber ebenfalls von diesem Fortschritt profitieren".
Heute haben wir leider eine ganz andere Situation. Längst geht es nicht mehr um existenzielle Fragen wie "genug Geld zum Überleben" oder "lebensgefährliche Arbeitsplätze". Nein, es geht um mehr Urlaub, mehr Freizeit, mehr Geld, mehr Pausen, kürzer Arbeitszeiten usw. – also gegenüber den Ursprüngen des Streikrechts reine Luxusfragen und Verhandlungssachen. Leider hat das ursprüngliche Streikrecht den Wandel der Zeit genauso überlebt wie die Schaumweinsteuer. Und leider können sich unmoralisch handelnde Zeitgenossen in Schlüsselbereichen deshalb aufplustern und sogar aufs Grundgesetz berufen, wenn sie die Volkswirtschaft aus egoistischen Motiven mal wieder um ein paar 100 Mio. EUR ärmer machen. Das ändert aber nichts daran, dass es widerlich und eine Schande ist.