Ich lese ja schon eine Weile hier mit und Ich lass die Kriegsthematik mal einfach hier raus, denn mir geht es grundsätzlich um Sicherheit von Atomkraftwerken. Es kann IMMER Unfälle, Pannen, Attacken irgendeiner Art geben, aber die Folgen müssen beherrschbar sein. Und das sind sie im Fall Atomkraft nicht. In keinster Weise, weder auf ein überschaubares Gebiet noch auf eine überschaubare Zeit beschränkt.
Ich finde es schlicht völlig unangemessen, überhaupt von den Toten als „Scheinargument“ zu sprechen und vor allem alle sonstigen Geschädigten (es gibt etwa 8 Mio Tschernobyl-Betroffene in kontaminierten Gebieten, manche mehr, manche weniger) zu vergessen. Das bringt mich auf die Palme.
Und das soll eine günstige und sichere Energieform sein? Allein die Folgen von Tschernobyl sollen bisher mehr als 600 Mrd. Euro gekostet haben - und ich glaube nicht ansatzweise, dass alle Folgen erfasst wurden. Das Alles bei genau genommen nur einem 1000MW-Reaktorblock.
Vielleicht tue ich jemandem Unrecht, aber hier diskutieren Leute, die sich irgendwelche Studien um die Ohren hauen, die vielleicht den technischen Ablauf des Unglücks gelesen oder die spektakulären Teile als Serie gesehen haben, vielleicht auch verstanden haben - aber trotzdem weder erfahren noch verstanden haben, was drumrum passierte. Die wie schon immer in Deutschland - einfach die Deutungshoheit übernehmen. Nicht ein Tschernobylez dabei (deutsch wortwörtlich Tschernobyler (m), die sinngemäße Übersetzung - mit entsprechender ausgrenzender Nebenbedeutung - „Leuchtet im Dunkeln“), nicht einmal gefragt. Keiner, der versteht, was neben der eigentlichen Unfallstelle, neben den Liquidatoren passierte. Vermutlich nichtmal jemand dabei, der ohne Nachzuschlagen die 5 anfänglich wichtigsten Isotope nach Tschernobyl aufzählen kann.
Zum Thema Studien bzgl. Betroffenen gäbe es für mich gewisse Minimalanforderungen bzgl. der Angaben:
- Herkunft und Signifikanz des Datenmaterials
- Betrachtungszeitraum der Studie (von-bis)
- sind Projektionsmodelle enthalten, wenn ja - welche (der Exit einer Folgenbetrachtung ist noch lange nicht erreicht, die damals Lebenden sind noch nicht alle tot)
- welche Menschen sind inkludiert (zum Zeitpunkt Lebende, Ungeborene oder später Geborene, was ist mit Totgeburten?)
- örtlicher Bezug (wer wurde örtlich in Untersuchungen inkludiert, follow-up bei Weggezogenen etc., beim AKW eingesetzte Menschen, in 37kBq-Gebieten (Bodenstrahlung) Gemeldete, in aus dem Kiewer Meer mit Trinkwasser versorgte Menschen, Nahrungsmittel, Unfälle/Verletzungen bei der Evakuierung?)
- was wurde eigentlich als Opfer betrachtet (Tod oder gesundheitliche Schädigung)
- welche Diagnosen wurden inkludiert
- Psychische und soziale Folgen
Wenn man das mal nur vollständig definiert wird man feststellen, dass es kaum vergleichbare Studien gibt, maximal ein Flickenteppich und ein merkwürdiger Wettbewerb von Endzahlen sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Ich erwarte da keine auch nur halbwegs korrekte Antwort mehr, zumal da durch die damaligen Sowjetunion auch viel Zahlenmaterial - so es denn überhaupt erhoben wurde - als geheim eingestuft wurde. Ich wüsste selbst nichtmal, wo man Anfangen und vor allem wo man Enden sollte.
Da wird Strahlenkrankheit und radioaktive Verbrennnungen schwersten Grades noch geradeso ursächlich dem GAU zugeordnet, bei vermehrt auftretendem Schilddrüsenkrebs diskutiert man schon (kann ja auch andere Ursachen haben) und Iod-131 im Speziellen war wohl zumindest schon nach 3 Monaten in den seltensten Fällen über dem Grenzwert nachweisbar (bei 8 Tagen HWZ). Über die vor lauter Panik mit Jod-Tabletten-Überdosis (viel hilft viel) in Kiewer Krankenhäusern liegenden Patienten lacht man oder weiß nichtmal davon.
Noch schwächer zugeordnet: erhöhte Anzahl Krebserkrankungen. Von geschwächten Immunsystemen, latenten Anämien, Panzytopenien etc. (übrigens das Thema, warum es die Deutschland-Aufenthalten für Kinder aus betroffenen Gebieten gab/gibt?) ganz zu schweigen, denn Ursachen - ihr ahnt es schon - können dafür vielfältig sein, da verrecken Menschen dann frühzeitig an Krankheiten, die wohl ohne beeinträchtigtes Blutsystem anders ausgegangen wären. Tja, und genetische Schäden, Chromosomenschädigungen. Aber ihr ahnt schon - sowas findet ständig im Körper statt - und nur eine mögliche Ursache wäre radioaktive Strahlung.
Und über psychosoziale Folgen spricht man bisher eigentlich nur in Fukushima Daiichi, dabei schreibt man dort diesem GAU allein mittlerweile über mehr als 240 Selbstmorde zu - und das ist nur die absolute Spitze des Eisbergs. Während der Ereignisse in Fukushima saß ich nachts vor dem Fernseher und wusste instinktiv, als nacheinander an 3 Reaktoren der Wasserdampf austrat, dass es vorbei ist - während der Kommentar noch beruhigend erklärt, dass man nicht wüsste, was geschehen ist.
Ich komme nicht aus der Anti-AKW-Bewegung, bin kein Anhänger der Grünen (genau genommen gar keiner Partei), ich bin nichtmal in der damaligen Bundesrepublik (West) geboren. Aber ich habe von Sommer 1983 bis Sommer 1986 - in Kiew gelebt, Wohnung 85 km Luftlinie von Tschernobyl-4. Ich wurde nicht Anfang Mai (10.05.86?) in die Ferien geschickt, so wie die sowjetischen Kinder. Ich war etwa noch 1,5 Monate da (also mehr als die 3fache Zeit gleichaltriger sowjetischer Kinder aus Kiew), bevor die sog. Schule beim Generalkonsulat der DDR in Kiew (hatte 2 Unterrichtsräume in der heutigen Schule No. 49 in Kiew, Yaroslav Val, das GK ist inzwischen die Kanadische Botschaft in Kiew) für 2-3 Wochen (bis Ferienbeginn am 01.07.86) in ein Ferienlager des Außenministeriums der DDR auf der Mecklenburger Seenplatte umzog. Ich war so die meiste Zeit in Kiew, als dort die höheren Dosen verteilt wurden.
Welche Sicherheit sollte es denn geben, wenn erst in der Nähe ein offener, brennender Reaktor tagelang seinen Inhalt in die Atmosphäre schleudert?
Die wenigsten wissen, dass vom Flughafen Borispol immer noch Richtung Norden - z.B. in Richtung Moskwa - gestartet wurde und die Flugroute leicht seitlich am Reaktor vorbeiging, sodass man aus dem linken Seitenfenster geradezu in den Reaktor schauen konnte. Machten es 14 h Extra-Dauer wegen Umleitung per Zug Richtung Minsk irgendwie sicherer? Oder brachten die Leute, die mit Geigerzähler auf offener Straße an Menschen rumgemessen haben, die nötige Sicherheit? Die Tankwagen, die versuchten, den radioaktiven Staub jeden Morgen in die Kanalisation zu spülen? Oder der Schleusenbetrieb im kleinen Flur der eigenen Wohnung, die mit Papierstreifen abgeklebten Fenster? Die Empfehlung des ukrainischen Gesundheitsministers im 1. Ukrainischen Fernsehen, doch wegen der Strahlung das Rauchen einzustellen (der heute übliche Zusatz mehr Sport zu machen und sich gesund zu ernähren fehlte) - aber mein Vater hat damit schlagartig aufgehört. Das Silberiodid, womit eventuell Wolken mit radioaktivem Niederschlag vor der Stadt abregneten, die dadurch extrem hohen Temperaturen? Die Wasserversorgung, die das Oberflächenwasser des Kiewer Meeres (Tschernobyl liegt direkt am Zufluss zu diesem riesigen Stausee, der Teil der Sperrzone war/ist!) in jeden Haushalt brachten? Die Dekontaminations-Posten der ABC-Truppen auf dem Weg aus Kiew raus, zum Beispiel nach Borispol (übrigens die Einzigen mit Maske - ich denke, jeder hätte sich damals eine gewünscht und getragen)? Oder die Art Sicherheit, als Ausländer ohne besondere Genehmigung die Stadt nicht verlassen zu dürfen?
Was solls, ich bin weiter zur Schule gegangen, schließlich war das mit Tschernobyl nur westliche Propaganda (Margots Volksbildungsministerium der DDR auf die Anfrage nach frühzeitigen Ferien analog sowjetischer Schüler).
Wie beruhigend, dass es kein Problem war, noch die 1. Mai-Parade auf dem Kreschtschatik durchzuziehen und es möglich war, den Radrennfahrern beim Prolog der Friedensfahrt zuzujubeln. Reines Verdrängen, das Undenkbare nicht wahrhaben wollen. Oder um Erich Honecker zu zitieren „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“
Der ukrainische Volksmund dichtete:
Auf dem Felde pflügt ein Traktor
Hinterm Dorf brennt ein Reaktor
Ein Atomstab fliegt vorbei
Es lebe Hoch der 1. Mai!
(Danke an Wiktor Wassiljowytsch Tymtschenko fürs Aufschreiben auf Deutsch)
Am 29.07.86 war - zusammen mit meinen Eltern - meine erste offizielle Strahlenmessung mit viel Duscherei und wiederholter Schrubberei (trotzdem - abgegrenzt zur natürlichen Radioaktivität - über Grenzwert)
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Der Diagnose-Code V70.0 ist übrigens der einzige eingetragene Diagnose-Code in meinem SV-Ausweis. Er bedeutet nach ICD-9 (DDR) „Allgemeine Routineuntersuchung in einer Einrichtung des Gesundheitswesens“. Natürlich hat das jeder in der DDR routinemäßig gemacht und ist nach Berlin gefahren (das war Sarkasmus). Noch allgemeiner und routinemäßiger ging vielmehr garnicht zu betonen. Der Stempel dahinter zeigt, dass es keine normale Reihenuntersuchung wie beim Hausarzt oder in der Schule war, der normale Arztstempel war auch viel kleiner. Soviel zu Erfassung, Auswertung und Statistik, der Basis von Studien.
Eine Nuklearkatastrophe wie Tschernobyl hat - allerdings im direkten Ursachennachweis häufig schwierig (manchmal vermerkt ein deutscher Mediziner „cryptogen“ in der Diagnose - medizinische Folgen für Betroffene, es hat auch - ohne jetzt an dieser Stelle zu tief einsteigen zu wollen - definitiv psychosoziale Folgen. Psychosozial bezieht sich dabei ausdrücklich auch auf die Reaktion Nicht-Betroffener auf Betroffene.
Tschernobyl hat jedenfalls mein weiteres Leben bis heute mehr geprägt als mir selbst lieb sein kann - was davon letztlich positiv oder negativ war, werde ich vermutlich erst am Ende meines Lebens wissen.
Es ist mir unbegreiflich, warum man 25 Jahre bis Fukushima brauchte, um den Atomausstieg in Deutschland anzugehen.
Möglicherweise aus Mangel an Ersatzkapazitäten, die man hätte schaffen müssen, vielmehr ging es um Wirtschafts- und Profitinteressen, vielleicht waren auch die verstrahlten Pilze und das kontaminierte Borstenvieh im Bayrischen Wald oder der kontaminierte Sand auf Spielplätzen nicht ausreichend. Vielleicht verdrängt der Mensch auch nur - bis auf die Betroffenen. So wie jede Katastrophe, jede Krise, jeden Krieg. Vielleicht sind wir inzwischen nur 1,5 oder 2 Generationen weiter.
Noch unbegreiflicher ist mir die jetzige Diskussion, nochmal 11 Jahre nach Fukushima.
Ich fände es nicht mal verkehrt, wenn auch mal die Folgen der verschleppten Umstellung auf Erneuerbare Energien, die völlig kontraproduktive Strompreisbremse von Herrn Altmaier, der ständig - auch durch Umweltorganisationen wie BUND, DUH etc. - behinderte Infrastrukturausbau (Südlink und andere HGÜ-Leitungen) spürbare Konsequenzen hätten, damit dieses Land mal wieder anfängt nach vorne zu schauen und nicht an 80er Jahre-Infrastruktur, z.T. noch älterer Vergangenheit festhält.
Einfach mal auf politische Entscheidungen die Konsequenzen spüren lassen, echtes Leben erleben, nicht alles mit Entlastungen aller Art zukleistern bis man sich keinen Schritt mehr bewegen kann.
Aber was immer auch von unserer heutigen Politik entschieden wird, ich werde es ertragen müssen so wie ich vieles schon ertragen habe. Betroffene, Sonderfälle spielen im Mehrheitsprinzip unserer Demokratie leider kaum eine Rolle und ich häng mich aus Prinzip nicht an Menschen, die das Thema versuchen für die politische Abgrenzung exklusiv zu missbrauchen und für so ein Thema aus Eigeninteresse die Deutungshoheit übernehmen, die Geschichte systematisch benutzen und ggf. bei Bedarf zu verraten.