https://www.sueddeutsche.de/wirtsch...wueste-deutschland-dienstleistungen-1.6297688
In der SZ gibt es vom 4.11. einen Essey zum Thema, welcher brilliante Erkenntnisse enthält.
Für mich hat die verfehlte Bildungspolitik der 90 er mit dem Wertewahn zum Bachalor zur Degradierung der Handwerklichen Berufe geführt. Die Auswirkungen sehen wir an jeder Strassenecke, in den ehemaligen Bäcker, Metzger und Klempner Läden sind Wettbüros und Kiks eingezogen. In Hotel und Gastro herrschte jahrzehntelang Sklaventreiber Regentschaft. Die Standesverbände (Teil der Profitnetzwerke) taten nichts ausser zu jammern.
Unter Corona gab es lediglich im Bereich der Alten und Krankenberufe einen Wertewandel, leichte Gehaltserhöhungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen. Diejenigen welche sich unter Corona aus den prekären Branchen in andere Tätigkeiten gewechselt sind, haben zum Teil das Paradies kennen gelernt. Sie kehrten weder in die Küchen noch an die Theken zurück.
Auszug
"Man merkt es am Flughafen, im Café, beim Bäcker und im Hotel. Es fehlen Vollzeitkräfte und Minijobber, Fachleute und Ungelernte. In München fährt der Bus nicht, keine Leute, in Cuxhaven kommt die Müllabfuhr nicht, keine Leute, in Halle an der Saale bittet die Kita die Eltern darum, die Kinder vorzeitig abzuholen. Keine Leute.
Nach dem diesjährigen DAK-Gesundheitsreport erlebt fast die Hälfte aller Beschäftigten in Deutschland "
regelmäßige Personalnot im eigenen Arbeitsumfeld". Was zum Kausalkreis führt: Wer arbeitet, arbeitet mehr, um das fehlende Personal auszugleichen, dem leider keine fehlende Arbeit entspricht. Wodurch sich wiederum ein höheres Gesundheitsrisiko ergibt.
Am Ende gibt es wieder mehr Kranke, noch weniger Arbeitende - und so weiter und so fort. Ein Viertel jener Menschen, die Personalnot erleben, leidet unter Schmerzen, ein Drittel hat Schlafstörungen, "mehr als die Hälfte ist komplett erschöpft", bilanziert die Studie der Krankenversicherung.
Der schon lange bekannte Fachkräftemangel in Deutschland berührt die Sektoren Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Krisenhaft unterbesetzt sind auch die Bildungs- und Gesundheitsbereiche. Dem Handwerk fehlen Friseure und Tischlerinnen. Der Fliesenleger, den man anruft wegen eines Kostenvoranschlags, bietet ein Gegengeschäft an -
ob man nicht vielleicht jemanden kenne, der beim Fliesenleger arbeiten wolle? Sorry, kennt man nicht. Man kennt nur viele Menschen, die "was mit Medien" machen. Man kennt auch keine Arzthelfer. Wenn man bei der Ärztin anruft, ist ein Band zu hören. Das Band sagt, es gäbe gerade einen "Engpass". Man möge daher bitte lieber nicht krank sein oder später noch mal anrufen. Zum Beispiel nächstes Jahr.
Von 801 Berufsgattungen sind laut Bundeswirtschaftsministerium 352 "aktuell mit Fachkräfteengpässen" konfrontiert. Nicht gezählt: all die kleinen Dienste, die man immer für etwas Selbstverständliches gehalten hat, oft erbracht von Leuten, die man ungelernt nennt, was selten freundlich gemeint ist. Der Engpass ist manchmal ein Defizit, das manchmal ein Mangel ist, der in Wahrheit ein Loch ist. Es wird gerade immer größer.
Mathelehrer am Gymnasium, die eigentlich weder Lehrer noch Mathematiker, sondern nur Teil der Einsatzreserve in einem kollabierenden Bildungssystem sind, sind übrigens insofern auch etwas, nun ja, ungelernt.
Aber man kann froh sein, dass sie den Anschein von Unterricht am Leben erhalten.
In der Pandemie wurden Leute gefeuert, die jetzt fehlen
Die Ursachen für den Engpass, der ein Loch ist, sind bekannt. Erstens wird Deutschland älter, weshalb mehr Menschen aufhören zu arbeiten - als Menschen anfangen zu arbeiten. Jahr für Jahr gehen Deutschland Arbeitskräfte im Volumen einer Großstadtbevölkerung verloren. Zweitens zeigen sich noch immer die Folgen der Pandemie.
Als Deutschland gedimmt wurde, waren Biergärten, Läden, Kinos, Restaurants, Hotels und viele andere öffentliche Orte betroffen. Das wirkt bis heute nach.
Damals wurden Leute gefeuert, die jetzt fehlen. Nur dass sich, drittens, die Leute andere und bessere Jobs gesucht haben. Viertens gehören dazu idealerweise gute Rahmenbedingungen: Bezahlung, Arbeitszeiten, Gestaltungsspielräume.
Sehr schlechte Jobs sind leider nur sehr schlecht zu besetzen? Wer ahnt denn so was.
Fünftens: Wie gehen wir mit den Leuten um, die wir brauchen? Leute mögen es, wenn man sie respektiert. Das gilt für die Chefärztin und für den, der einem ein Essen hinstellt. Die den Bus fährt. Der den Koffer aufs Band wuchtet. Der den Müll sortiert. Es gilt auch für den, der ein Kind betreut. Die ein Flugzeug fliegt. Der Haare schneidet.
Jahrelang wurden in Deutschland Handwerker gegen Akademiker und Fachkräfte gegen Ungelernte ausgespielt. Jahrelang wurden im Discountparadies die Preise kleiner, der Wert der Dinge und der Arbeit nicht größer. Jahrelang wurde die Nation zur Self-Nation umgebaut: an der Supermarktkasse, am Bankschalter, bei der Gepäckaufgabe.
In Stuttgart betritt man kurz vor Küchenschluss ein Restaurant. Nur zwei andere Gäste sind noch da. Es ist spät. Trotzdem wird man freundlich bedient. Dienen und bedient werden: Es mutet exotisch an. Eine Retrokultur. Die anderen Gäste entpuppen sich, strahlend vor Selbstbewusstsein, als junge Manager, die über ihre Boni sprechen. Es kommt die Rechnung. 135,80 Euro. Sagt der eine: "okay, 140." Vier Euro und zwanzig Cent Trinkgeld. Etwa drei Prozent. Für zwei Gäste. Der Kellner bedankt sich. Geht.
Sagt der andere Manager: "136 hätten auch gereicht." Wieherndes Gelächter am Boni-Tisch. Der Kellner sieht müde aus."